Zeitschrift für marxistische Debatte und Einheit

Die Linke und Palästina Teil 2: Von der »Hottentottenwahl« lernen

Die alte Sozialdemokratie zeigte während der »Hottentottenwahl«, dass ein erfolgreicher antikolonialer und sozialistischer Wahlkampf während eines Genozids möglich ist, argumentiert Carlos Quiñones im zweiten Teil seiner Artikelreihe zum Verhältnis der Linken zum aktuellen Geschehen in Palästina.

Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie sich marxistische Politik in diesem Moment aufstellen sollte und wie ein sozialistischer Wahlkampf im Kontext eines Kolonialkriegs und Genozids aussehen könnte, lohnt es sich, Inspiration zu ziehen aus einer häufig missverstandenen Episode sozialistischer Geschichte: die sogenannte »Hottentottenwahl« von 1906/07.1

Das Kaiserreich erwarb in den 80ern und 90ern des 19. Jahrhunderts eine Reihe von Kolonien, die insgesamt wenig Profit abwarfen und die von vielen Kriegen zwischen der deutschen Kolonialmacht und der Lokalbevölkerung geprägt waren. Am bekanntesten sind der chinesische Boxer-Aufstand ab 1900, von dem auch die ab 1898 zwangsverpachtete Kolonie Kiautschou (Jiāozhōu) betroffen war, der Vernichtungskrieg gegen die OvaHerero und Nama (abfällig „Hottentotten“ genannt) in „Deutsch-Südwestafrika“ von 1904 und der Maji-Maji-Aufstand von 1905 in „Deutsch-Ostafrika“ (heute: Burundi, Ruanda und Tansania abzüglich Sansibar) – doch es gab viele weitere Aufstände.

Von Anfang an lehnte die Mehrheit der Sozialdemokratie die Kolonialpolitik des Kaiserreichs kategorisch ab. Beispielsweise stimmten die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten 1889 gegen eine Vorlage, die vorsah, dass der Staat die Verwaltung über „Deutsch-Ostafrika“ selbst in die Hand nehmen sollte, nachdem die Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft unter dem berüchtigten Kolonialabenteurer und -verbrecher Carl Peters die lokale Bevölkerung zum Widerstand getrieben hatte. Als ein Jahrzehnt später der Boxer-Aufstand in China ausbrach, verurteilten August Bebel und Paul Singer die deutsche Teilnahme an der Aufstandsbekämpfung und lehnten es ab, die notwendigen Mittel zu bewilligen. Stattdessen veröffentlichte die sozialdemokratische Presse sogenannte „Hunnenbriefe“ deutscher Soldaten, in denen sie ihre Gräueltaten schilderten. Bei einer Soldatenbesichtigung in Bremerhaven hatte Wilhelm II. gesagt: »Wie vor 1000 Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen läßt, so möge der Namen Deutscher in China auf 1000 Jahre durch Euch in einer Weise betätigt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen!«2

Vier Jahre später, mitten im Krieg gegen die zu den Nama gehörenden Bondelswart, brach am 12. Januar 1904 ein zusätzlicher Krieg zwischen den Deutschen und den OvaHerero in Namibia aus, der aus damaliger deutscher Sicht und auch später immer wieder als „Aufstand“ unter der Führung von Samuel Maharero aufgefasst wurde. In Wahrheit wurde der Krieg von den deutschen Kolonialbehörden in Okahandja unter Leutnant Zürn begonnen, da Zürn unberechtigterweise von einem bevorstehenden Angriff durch Maharero ausging, der bis dahin ein Verbündeter der Deutschen gewesen war.3 Die Kräfte Mahareros töteten 123 deutsche Soldaten und Siedler, wobei sie Frauen und Kinder verschonten.4 In Deutschland verbreiteten sich indes die Erzählungen über einen im Voraus geplanten Aufstand, gepaart mit rassistischer Gräuelpropaganda.

In dieser aufgeheizten und unübersichtlichen Situation tagte der Reichstag am 19. Januar 1904, um über die Bewilligung von Geldern für die Aufstandsbekämpfung in den Kolonien zu diskutieren. Im Reichstag ordnete Bebel trotz der schlechten Informationslage den »Aufstand« und die Gewalt in den kolonialen Kontext ein und machte auf die Ursachen der Gewalt aufmerksam. Was die Entsendung von Truppen in die Kolonie anging, enthielten sich die sozialdemokratischen Abgeordneten. Es lohnt sich, Bebels Argumentation hierfür in Gänze wiederzugeben:

»Meine Herren, wenn wir die Gründe des Aufstandes genau kennten und annehmen müßten, wie wir jetzt glauben annehmen zu können, daß die Schuld an diesem Aufstand ausschließlich auf deutscher Seite beziehentlich auf Seite des Regimes lastet, das in Südwestafrika besteht, so würden wir von vornherein gegen eine Bewilligung dieses Etats stimmen. Nachdem wir uns aber über die Ursachen, welche diesen Aufstand herbeigeführt haben, bis auf diesen Augenblick noch im unklaren befinden, sind wir zu dem Entschluß gekommen, bis auf weiteres diesen Forderungen gegenüber uns der Abstimmung zu enthalten. Meine Herren, wir begreifen, daß Sie, die Sie die deutsche Kolonialpolitik bisher unterstützt haben, auch die volle Verantwortung für die Zustände, wie sie in unseren Kolonien bestehen, mitzutragen haben und daß Sie, nachdem jetzt dieser Aufstand ausgebrochen ist, die selbstverständliche Verpflichtung besitzen, ihrerseits alles aufzubieten, um ihn so rasch wie möglich zu Ende zu bringen und die Kolonisten, welche im Vertrauen auf Ihre Zusagen und Versprechungen sich dort niedergelassen haben, nach Möglichkeit zu retten. Damit aber nicht der Anschein erweckt wird, als wollten wir dem entgegentreten, sind wir unsererseits übereingekommen, uns in diesem Falle der Abstimmung zu enthalten. Ich bemerke aber ausdrücklich, daß dies in gar keiner Weise unsere Stellung zu der Kolonialpolitik irritiert, die wir nach wie vor als nach jeder Richtung hin als unheilvoll betrachten müssen.«5

Bebel begründete die sozialdemokratische Enthaltung auf doppelte Weise: Erstens mit der Unklarheit darüber, ob die Verantwortung am »Aufstand« teilweise oder ganz auf deutscher Seite gelegen habe. Und zweitens mit dem Bedürfnis für die Sozialdemokratie, sich vor dem Vorwurf zu schützen, man sei grundsätzlich dagegen, die Siedler:innen zu beschützen. Was die erste Begründung angeht, machte Bebel nicht deutlich, warum es aus sozialdemokratischer Sicht von Bedeutung war, ob die OvaHerero unter Samuel Maharero gar keine oder einen Teil der Schuld am Ausbruch des Krieges trugen. Vor allem bleibt unklar, warum diese Frage so bedeutsam gewesen wäre, dass die sozialdemokratischen Abgeordneten im Fall, dass die Schuld ausschließlich auf deutscher Seite gelegen hätte, sich gegen die Bewilligung der Gelder ausgesprochen hätten, auch wenn sie dadurch den Vorwurf kassiert hätten, dass sie die Siedler:innen ihrem Schicksal überlassen würden. Wie dem auch sei: Die deutschen Soldaten beteiligten sich wie zu erwarten nicht nur am Schutz und der Evakuierung der Siedler:innen, sondern wurden Teil einer weiteren Episode deutscher Aufstandsbekämpfung in Namibia. Der Krieg eskalierte dann unter der Führung von Lothar von Trotha ab Sommer 1904 zur offenen Vernichtung, der Zehntausende zum Opfer fielen.

Am 30. Januar 1905, etwa ein Jahr nach Ausbruch des Krieges und wenige Monate, nachdem die deutschen Soldaten unter von Trotha die Herero in der Omaheke-Wüste abgeriegelt und dezimiert hatten, lieferte Bebel im Namen der Sozialdemokratie eine ausführliche Darstellung der jahrelangen deutschen Gewaltgeschichte in Namibia bis zum Ausbruch des Krieges. Er beendete seine Ausführungen mit einer moralischen Bilanzierung:

»Meine Herren, das Recht zum Aufstand, das Recht zur Revolution hat jedes Volk und jede Völkerschaft, die sich in ihren Menschenrechten aufs alleräußerste bedrückt fühlt.

Wenn schließlich nach all diesen Taten, die ich hier vorgetragen habe, schließlich der Aufstand der Hereros ausbrach, und dann eine Reihe der schlimmsten Greueltaten von seiten der Aufständigen begangen wurden, so ist das nur die natürliche Folge unserer Kolonialpolitik, des Verhaltens der Ansiedler, kurz, der ganzen Tätigkeit, die von uns aus in Südwestafrika ausgeübt worden ist.

Nun sagt man — und vielleicht kommt auch man heute auch wieder damit, wie man es schon in der Budgetkommission getan hat —: ja, aber die Greueltaten! Meine Herren, die Greueltaten leugnet niemand von uns. Es sind Greueltaten schauderhafter Art vorgekommen, aber alle ohne Ausnahme erst, nachdem die skandalösen Dinge vorausgegangen waren, die ich Ihnen hiermit mitgeteilt habe und zum Teil auch in dem Bericht der Kolonialregierung enthalten sind. Nachdem diese Greueltaten mehr als ein Jahrzehnt gedauert und sich immer wiederholt haben, ist endlich das Volk zum äußersten getrieben und gereizt worden und hat mit Greueltaten geantwortet. Ich meine aber, wenn es einmal ein Abwägen von Schuld und weniger Schuld vor der Geschichte gibt, dann kann kein Zweifel bestehen, daß das weitaus größere Maß von Schuld auf unserer Seite liegt daß wir, die auf höherer Stufe stehende Kulturnation, wir, die christliche Nation, wir, die Zivilisierten, allein die Schuld tragen, daß das Volk zu solchen Barbareien getrieben wurde. Das muß einmal mit aller Rücksichtslosigkeit und Energie ausgesprochen werden.«

Konzentrieren wir uns zunächst auf die Schuldfrage, die Bebel im Zusammenhang mit den Gräueltaten behandelt, die in der Öffentlichkeit skandalisiert werden. Wie erwähnt, bemüht sich Bebel zunächst um eine Kontextualisierung des Aufstands und damit auch der begangenen Gräueltaten. Für Bebel trägt die deutsche Kolonialmacht die alleinige Schuld daran, dass es überhaupt zu einer überzogenen Gegenreaktion seitens der OvaHerero gekommen ist. Die Argumentation basiert auf einer paternalistischen Abwertung derselben gegenüber den Deutschen als »auf höherer Stufe stehende Kulturnation«. Lorenzo Costaguta hat in seinem Text Before Baku: The Second International and the Debate on Race and Colonialism (2023) anschaulich gezeigt, dass dieser Paternalismus bis in den revolutionären Flügel der Sozialdemokratie hineinragte und die offiziell antikoloniale Politik der Zweiten Internationale teilweise lähmte. Dennoch legt die Formulierung vom »weitaus größere[n] Maß von Schuld« zumindest implizit nah, dass auch der koloniale Kontext, unter dem die Gräueltaten gegen die Siedler stattfanden, die Aufständischen nicht restlos von ihrer Eigenverantwortung freisprechen kann. Die Kolonisierten haben aus Bebels Sicht trotz ihrer vermeintlich niederen zivilisatorischen Stellung also sowas wie Eigenverantwortung. In diesem Sinn verteidigt Bebel vor dem Reichstag auch das Widerstandsrecht der OvaHerero. Trotz der vorhandenen Vorurteile werden weder für die Gräueltaten Ausreden gesucht, noch werden die Gräueltaten selbst zur Ausrede, um dem Aufstand die Legitimität abzusprechen.

Auf die Niederwerfung der OvaHerero folgte unmittelbar ein Guerrillakrieg der Nama, u. a. unter der Führung von Jakob Morenga und Hendrik Witbooi, der bis 1907 dauern sollte. Sowohl gegen Morenga als auch gegen Witbooi lassen sich alle möglichen „Einwände“ anführen, die sie aus sozialistischer Sicht unattraktiv machten (auf ihren Wahrheitswert gehe ich hier nicht ein): dass Morenga nur die Deutschen mit den Briten ersetzen wollte, dass Witbooi in der Vergangenheit an der Niederwerfung von Aufständen beteiligt gewesen und durch reaktionäres christliches Denken inspiriert war, und vieles mehr. Die antikoloniale Oppositionshaltung der Sozialdemokratie blieb aber auch in Bezug auf den Guerrillakrieg der Nama identisch. Als eine Mehrheit des Reichstags, bestehend aus Sozialdemokratie, den polnischen Abgeordneten, Zentrumspartei und Freisinnigen, sich im Dezember 1906 (natürlich aus ganz unterschiedlichen Gründen) weigerte, dem im August vorgeschlagenen Nachtragshaushalt von 29 Millionen Reichsmark zur weiteren Finanzierung der Kolonialkriege in Namibia zuzustimmen, ließ Reichskanzler von Bülow mit der Unterstützung von Wilhelm II. den Reichstag auflösen. Vorzeitige Wahlen wurden eingeleitet und ein prokoloniales Wahlbündnis aus Konservativen, Nationalliberalen und Linksliberalen kam zustande, der sogenannte „Bülow-Block“. Dieses Wahlbündnis wurde flankiert durch den bereits seit 1904 tätigen prokolonialen Reichsverband gegen die Sozialdemokratie (im Volksmund: Reichslügenverband), dessen Vorsitzender Eduard von Liebert bis 1901 Deutsch-Ostafrika regiert hatte.

Die Taktik der Rechten bestand darin, das Bekenntnis zu den Kolonien und zur Weltpolitik des Kaiserreichs in einen patriotischen Lackmustest zu verwandeln, und gleichzeitig dieses fehlende Bekenntnis vonseiten der vaterlandslosen SPD zu skandalisieren. Die Sozialdemokratie ging diesem „Triggerpunkt“ nicht aus dem Weg, sondern bettete ihre Opposition gegen die Kolonialkriege in ihre allgemeine sozialistische Wahlagitation ein. Hierfür ein Beispiel: In einer Auswertung der Reichstagsauflösung in der von Clara Zetkin geführten Zeitschrift Die Gleichheit wurde der »Kolonialkrach« erwähnt, doch die Bedeutung der vorgezogenen Reichstagswahl wurde zugleich aus der Sicht einer ganzen Reihe politischer, ökonomischer und sozialer Probleme beleuchtet: 

»Die Reichstagsauflösung (…) trifft in eine Zeit, in der noch andere Ursachen als nur der Kolonialkrach tiefe Unzufriedenheit in den breiten Massen des Volkes, insbesondere unter dem organisierten Proletariat, erzeugt haben. So haben auch im Verlauf der beginnenden Reichstagsverhandlungen die Fleischnot und die Gewerkschaftsvorlage eine wesentliche Rolle gespielt. Beide Fragen werden auch in den Wahlkämpfen einen wichtigen Einfluß auf die Entscheidung ausüben, obgleich ja das „Gesetz betreffend die gewerblichen Berufsvereine“ beim Reichstagsschluß mit eingesargt worden ist. Es kann aber wieder auferstehen.«6

Der Anspruch, die Lohnabhängigen über ihre eigene Lage aufzuklären, und sie mit einer Kritik an ihren eigenen gesellschaftlichen Verhältnissen für die Politik der Sozialdemokratie zu gewinnen, stand nicht im Widerspruch zu einer antikolonialen Agitation im Rahmen des Wahlkampfs selbst. Im Gegenteil gehörte antikoloniale Aufklärung selbst wesentlich zur Aufklärung über die Lage der Lohnabhängigen im eigenen Land, weshalb auch die Thematisierung des Genozids an den Nama und OvaHerero im Rahmen des Wahlkampfs selbstverständlich war, wie aus einem der damaligen Wahlaufrufe hervorgeht:

»Es ist die Niedermetzlung und Ausrottung der Hereros und Hottentotten, der ursprünglichen Eigentümer des Landes, welche, durch die Grausamkeiten und Bestialitäten der deutschen Farmer bis auf Blut gepeinigt, sich zum Aufstand haben hinreißen lassen, ganz ebenso, wie es vor bald 1900 Jahren Hermann der Cherusker gegen die Römer gemacht hat. […] Wir verstehen unter dem Gebot nationaler Ehre, dass wir den Hereros und Hottentotten unsere Kulturerrungenschaften bringen, worunter wir aber nicht den Branntwein und die Kleinkalibrigen und Schnellfeuerkanonen rechnen.«7

Trotz massiver Hetze und trotz des eigenen Paternalismus gelang es der Sozialdemokratie, den Wahlkampf zu nutzen, um die Bevölkerung darüber aufzuklären, dass der Widerstand gegen den deutschen Kolonialismus gerecht und der deutsche Kolonialismus ungerecht war und beendet werden musste. Die SPD ließ sich nicht darauf ein, die Kolonialfrage isoliert zu behandeln von der Realität der Lohnabhängigen. Diese Realität wurde nicht aufs Ökonomische reduziert, sondern immer auch politisch und damit global gefasst. Nach dieser Vorstellung war die kritische Behandlung der kolonialen Weltpolitik des Kaiserreichs im Wahlkampf keine Abkehr von den Aufgaben der Sozialdemokratie, sondern unerlässlicher Bestandteil ihrer revolutionären Botschaft.

Die »Hottentottenwahl« — ein kolonialsozialistischer Wendepunkt?

Bis vor einigen Jahren herrschte in der Geschichtsschreibung noch die Auffassung, dass die »Hottentottenwahl« von der Sozialdemokratie im Nachgang insgesamt negativ ausgewertet wurde, vor allem, da sie nach der Wahl die Hälfte ihrer Sitze im Reichstag einbüßte. Dies und die prokoloniale Stimmung in der Arbeiterklasse habe zu einem Umdenken in der Sozialdemokratie in Richtung einer Versöhnung von Sozialismus und Kolonialismus geführt. Hieraus wird dann eine direkte Verbindung zur Katastrophe von 1914 konstruiert. Einige Linke wie neulich Torkil Lauesen in seinem Buch Die globale Perspektive gehen einen Schritt weiter und behaupten, die SPD sei davor schon im Grunde kolonialsozialistisch gewesen.8

Der Historiker Jens-Uwe Guettel hat 2012 in seinem Artikel The Myth of the Pro-Colonialist SPD diese Ansichtsweise angegriffen. Erstens gewann die Sozialdemokratie 1907 250.000 zusätzliche Stimmen im Vergleich zu 1903. Nur aufgrund undemokratischer Manipulationen der Wahlergebnisse war es möglich, diesen absoluten Erfolg zu übersetzen in einen Verlust der Hälfte der Abgeordneten. Zweitens wertete die Sozialdemokratie selbst das Wahlergebnis insgesamt positiv aus und dachte nicht an einen Kurswechsel in der Kolonialfrage, wie Guettel an den Wahlauswertungen des Parteilinken Adolph Hoffmann, der Gemäßigten Otto und Adolph Braun, und auch bekannterer Figuren wie Kautsky und Mehring nachweist. Und drittens hat auch die damalige bürgerliche Presse keinen Kurswechsel in eine kolonialismusfreundliche Richtung bei der Sozialdemokratie wahrgenommen. Guettel führt insbesondere das Verhalten der deutschen Sozialdemokratie auf dem kurz nach der »Hottentottenwahl« organisierten Internationalen Sozialistenkongress in Stuttgart 1907 und seine negative Bewertung von bürgerlicher Seite an, um deutlich zu machen, dass das Ergebnis der Wahl von 1907 nicht zu einem Bruch der SPD mit ihrer alten antikolonialen Haltung führte. Auf dem Stuttgarter Kongress erntete Kautsky mit seiner antikolonialen Rede viel Applaus, während der kolonialsozialistische Bernstein keine große Rückendeckung unter den Delegierten genoss. Die radikal antikoloniale Endfassung des Antrags zur Kolonialfrage wurde von der deutschen Delegation unterstützt und einige Monate später auf dem Essener Parteitag bestätigt. Richard Calwer gehörte zu den wenigen prominenten Mitgliedern, die die Reichstagswahl von 1907 negativ auswerteten und dieses negative Ergebnis auf die antikoloniale Haltung der Partei zurückführten. Im August 1907 weigerte sich die Parteiorganisation in seinem Wahlkreis, ihn wieder antreten zu lassen. 1909 verließ Calwer freiwillig die Partei, nachdem er aufgrund seiner prokolonialen Haltung über zwei Jahre der kalten Schulter der Partei und sogar einem Ausschlussverfahren (das nur aufgrund formaler Fehler scheiterte) ausgesetzt gewesen war. Gerhard Hildebrandt, Mitarbeiter der Sozialistischen Monatshefte, wurde 1912 aufgrund seiner offen prokolonialen Haltung rausgeschmissen. Bernstein hatte mit seiner Einstellung viele Probleme, und Gustav Noske war vorsichtig damit, mit seinen nationalistischen und kolonialistischen Ansichten nicht in Schwierigkeiten zu geraten, da es die Verhältnisse in der Partei nicht erlaubten.

1907 — 2025

Nicht nur die Sowjetunion, sondern auch die USA und liberale Kräfte haben seit den Weltkriegen auf eine relative Einschränkung formal kolonialer Verhältnisse und auf eine Schwächung der alten Imperien hingewirkt. Vor allem die nationalen Befreiungsbewegungen haben dazu beigetragen, Kolonialismus eine dermaßen negative Konnotation zu geben, dass prokoloniale politische Bewegungen sich heutzutage seltener als solche kenntlich machen (auch wenn ist, ob das so bleiben wird). Für eine »sozialistische Kolonialpolitik« würde heute kaum jemand werben. Dennoch gibt es Parallelen zwischen der kolonialsozialistischen Tradition und der aggressiven politischen Unterstützung von deutschen Linken für das israelische Staatsprojekt. Diese Kontinuitäten zu benennen und zu kritisieren, muss nicht heißen, die wesentlichen Unterschiede zwischen dem damaligen deutschen Kolonialismus und dem zionistischen Kolonialprojekt in seiner aktuellen Form zu bestreiten. Die Deutschen in den Kolonien gehörten in ihrer Mehrheit nicht zu einer Gruppe, die in ihrer alten Heimat unterdrückt wurde. Israel hat kein festes Mutterland, sondern ist auf das sponsoring imperialer Großmächte angewiesen – darauf also, von geopolitischem Nutzen für den jeweiligen Sponsoren zu sein. Die Palästinenser:innen haben viel mehr gemeinsam, als es die verschiedenen Gruppen im damaligen Namibia untereinander hatten. Im Gegensatz zu Israel kam es in Namibia ebensowenig wie in Südafrika dazu, dass die Siedler:innen sich zumindest hauptsächlich auf ihre eigene Arbeit stützen konnten. Da auch jüdische Israelis mittlerweile eine eigene nationale Identität entwickelt haben, nimmt der „Nahostkonflikt“ darum, wie Moshé Machover erklärt, oberflächlich gesehen die Form eines Konflikts zwischen zwei Nationen an, was aber nichts daran ändert, dass er weiterhin ein kolonialer Konflikt ist und bleibt. Wir erleben das heute an der Vertreibung und Unterdrückung des palästinensischen Volkes, die viele Parallelen aufweisen zum Schicksal der schwarzen namibischen Bevölkerung – nicht nur unter deutscher, sondern später auch unter südafrikanischer Herrschaft. Insbesondere die genozidalen Parallelen sind unverkennbar und werden von namibischen Linken selbst immer wieder hervorgehoben.

Das Schwierige an einem Vergleich zwischen der Hottentottenwahl und der kommenden Bundestagswahl ist also nicht, dass den Nama und OvaHerero etwas grundsätzlich anderes angetan wurde als das, was das palästinensische Volk heute erlebt. Das eigentliche Problem am Vergleich ist, dass es heute keine politische Kraft gibt, die mit der damaligen Sozialdemokratie vergleichbar wäre. Die Linkspartei ist nicht nur viel kleiner als die damalige SPD, sondern sie teilt auch nicht ihren Anspruch, die Verhältnisse grundsätzlich zu kritisieren und sich auch in Wahlkämpfen als konsequente Opposition den Verhältnissen entgegenzustellen. Dieser Haltung ist es zu verdanken, dass die alte Sozialdemokratie ökonomische und politische Fragen nicht gegeneinander ausspielte, sondern letztlich zu einer tieferen Behandlung beider Aspekte der gesellschaftlichen Realität durchdrang, als es die Linke heute tut. Gerade weil der damals noch starke marxistische Flügel der Sozialdemokratie an diese Tradition anknüpfen konnte, gelang es der Partei, trotz der relativen Unentschlossenheit ihrer Abgeordneten bei den ersten Abstimmungen über den Krieg gegen die OvaHerero und trotz des politischen Drucks, an ihren antikolonialen Grundsätzen festzuhalten, wie es ihr Wahlkampf während der »Hottentottenwahl« zeigt. Wie Guettel und andere betonen, ist es ein Beweis der Verwurzelung der Sozialdemokratie in ihren Prinzipien, dass der Erste Weltkrieg, die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, erforderlich war, um einen Bruch der SPD mit dieser Tradition zu erzwingen.

Die Linke im Allgemeinen und die Parteilinke im Besonderen haben sich auf eine solche Tradition nicht unmittelbar stützen können. Dennoch kann die Parteilinke von der Partei einen Wahlkampf fordern, wie ihn die alte Sozialdemokratie im Kontext des Genozids an den Nama und OvaHerero mit Erfolg durchführte. Jetzt noch könnte die Parteilinke darauf bestehen, dass über den laufenden Genozid in Gaza und die deutsche Mittäterschaft im Wahlkampf aufgeklärt werden muss. Und schließlich könnte die Parteilinke selbst aus eigener Kraft und Initiative vorangehen und mit einer eigenen Wahlkampfpraxis greifbar machen, was schon die Geschichte der Arbeiter:innenbewegung bewiesen hat: dass Politik „für die Menschen“ auch im Wahlkampf nichts damit zu tun hat, zu Kolonialismus und Völkermord zu schweigen.

  1. Den Genoss:innen, die noch Zweifel haben am kolonialen Charakter des israelischen Staates und damit an der grundsätzlichen Vergleichbarkeit der damaligen Situation mit der heutigen, sei wieder die Arbeit von Moshé Machover empfohlen. ↩︎
  2. https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-7-2/seite/798 ↩︎
  3. https://www.sahistory.org.za/article/timeline-german-and-herero-nama-war-and-genocide ↩︎
  4. https://jacobin.com/2018/08/spd-namibia-herero-nama-genocide-colonialism ↩︎
  5. Reichstagsprotokolle. 14. Sitzung. Dienstag den 19. Januar 1904. S. 368. ↩︎
  6. https://collections.fes.de/historische-presse/periodical/zoom/241232 ↩︎
  7. https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2007/02/01/01022007/ ↩︎
  8. Vgl. Torkil Lauesen. The Global Perspective: Reflections on Imperialism and Resistance. S. 83f. ↩︎