Donald Parkinson beschreibt und verteidigt das Format des Minimum-Maximum-Programms anhand von Marx‘ und Guesdes Programm für die französische Parti Ouvrier. Das englische Original erschien im Mai 2021 auf Cosmonaut Magazine.
Dieser Essay befasst sich mit einem oft vergessenen, aber wichtigen Aspekt von Marx‘ Werk: seinem Beitrag zur Kunst des politischen Programms. An Literatur, die sich mit den Theorien und philosophischen Ideen von Marx auseinandersetzen, fehlt es nicht. Dabei wird oft vergessen, dass Marx nicht nur ein politischer Stratege war, sondern auch einen Beitrag zu bestehenden politischen Bewegungen leistete. Das Kommunistische Manifest, das inmitten der Kämpfe von 1848 verfasst wurde, ist wohl der bekannteste Beitrag dieser Art. Dies war jedoch zu Beginn von Marx‘ politischer Karriere. Das gemeinsam mit Jules Guesde verfasste Programm der französischen Parti Ouvrier gibt dagegen einen guten Einblick in seine „reiferen“ politischen Beiträge.1 Dieses Dokument ist nicht nur Ausdruck der politischen Ansichten des reifen Marx, sondern auch ein Modell für die Formulierung eines Minimum-Maximum-Programms, an dem sich meiner Meinung nach die heutige sozialistische Bewegung orientieren sollte.
Bei dieser Auseinandersetzung mit der Programmfrage geht es nicht um eine Exegese des von Marx und Guesde verfassten Programms, sondern um die Untersuchung aktueller Probleme im Zusammenhang mit der Frage eines politischen Programms für die sozialistische Bewegung der Gegenwart. Ich glaube, dass das Programm der Parti Ouvrier auch heute noch als Vorbild für ein politisches Programm gelten kann. Nicht nur, weil es ein authentischer Beitrag des reifen Marx nach den Erfahrungen der ersten Internationale und der Pariser Kommune ist, sondern auch, weil seine Minimum-Maximum-Struktur anderen programmatischen Methoden, die heute von der sozialistischen Linken verwendet werden, überlegen ist. Eine dieser Methoden, die ich in diesem Essay diskutieren werde, ist die des Übergangsprogramms, die von der trotzkistischen Zeitschrift LeftVoice (in Deutschland Klasse gegen Klasse), welche eine Kritik des Minimum-Maximum-Programms formuliert hat, bevorzugt wird.
Ein politisches Programm für die französischen Arbeiter:innen
Zunächst möchte ich das Programm der Parti Ouvrier näher beleuchten. Die Ursprünge des Programms gehen auf einen Arbeiterkongress acht Jahre nach dem Fall der Pariser Kommune, den dritten sozialistischen Arbeiterkongress Frankreichs von 1879 in Marseille zurück, welcher die Bildung einer unabhängigen Arbeiterpartei und die Notwendigkeit der Kollektivierung der Produktionsmittel proklamierte. Dies war ein Rückschlag für die bis dahin in der französischen sozialistischen Bewegung vorherrschenden proudhonistischen Strömungen und Ausdruck des Aufstiegs marxistischer Politik als organisierte Kraft in Frankreich. Die zwei wichtigsten Vertreter marxistischer Ideen (oder dessen, was später als solche bekannt werden sollte) in Frankreich waren zu dieser Zeit Paul Lafargue und Jules Guesde. Lafargue war der Schwiegersohn von Karl Marx, während Guesde Vorsitzender der neu-gegründeten Fédération des travailleurs socialistes de France (Föderation der sozialistischen Arbeiter Frankreichs) war. Beide suchten die Zusammenarbeit mit Marx bei der Ausarbeitung des Parteiprogramms zur Vorbereitung der nationalen Parlamentswahlen von 1881.2
Marx entwarf zuerst einen 101-Punkte umfassenden Fragebogen für Arbeiter:innen, der in der sozialistischen Zeitung La Revue Socialiste erschien. Ziel des Fragebogens war es, Informationen über die Lebens- und Arbeitsbedingungen des französischen Proletariats zu sammeln, welche in die Ausarbeitung der Forderungen einfließen sollten. Guesde reiste durch das Land um lokale und regionale Gruppen zu organisieren, und stellte fest, dass die meisten Arbeiter:innengruppen in erster Linie an reformistischen Forderungen nach mehr sozialen und bürgerlichen Rechten interessiert waren. Im Anschluss an diese Reise fuhr Guesde im Mai 1880 nach London, um dort Marx und Engels zu treffen und schließlich mit ihnen das Programm auszuarbeiten.3
Die von Marx verfasste Einleitung des Parteiprogramms ist eine der wirkungsvollsten und zugleich treffendsten Zusammenfassungen kommunistischer Politik, die je formuliert wurde. Engels selbst nannte sie „ein Meisterstück schlagender, den Massen in wenig Worten klarzustellender Beweisführung wie ich wenige kenne, und wie es mich selbst in dieser konzisen [sic] Fassung in Erstaunen setzte.“4 Marx eröffnet die Präambel mit einer einfachen Zusammenfassung der kommunistischen These: „daß die Emanzipation der Klasse der Produzenten alle Menschen, ohne Unterschied von Geschlecht und Rasse, umfaßt.“5 Damit werden Behauptungen, der Marx’sche Kommunismus sei nur für die Industriearbeiter von Belang sowie reiner „workerism“, klar widerlegt. Der Kampf des Proletariats, der produktiven Klasse im modernen Kapitalismus, wird nicht als Selbstzweck oder im Kontext von Partikularinteressen in der Klassengesellschaft gesehen, sondern als Mittel zur universellen Befreiung der Menschheit. Um dies zu verdeutlichen, betont Marx den universellen Charakter dieser Menschheit, indem er deutlich macht, dass er die Menschheit ohne Unterschied des Geschlechts oder der „Rasse“ meint. Der internationalistische und anti-patriarchale Charakter der marxistischen Politik wird auf diese Weise von Anfang klar zum Ausdruck gebracht.
Im nächsten Satz wird die Bedingung genannt, unter der die produktive Klasse befreit werden kann: dafür müsse sie „im Besitz der Produktionsmittel“ sein. Dies mag aus unserer Sicht selbstverständlich erscheinen, musste aber zu Marx‘ Zeit klargestellt werden. Aus diesem Grund wird im nächsten Satz zwischen zwei Formen unterschieden, durch die die Produktionsmittel im Besitz der Produzent:innen sein können: die individuelle und die kollektive Form. Die individuelle Form bezieht sich auf die Bauern und Handwerker, die als Individuen im Besitz ihrer eigenen Produktionsmittel sind. Diese Form des Besitzes wurde von den Anhänger:innen Proudhons, die bis zu dieser Zeit den französischen Sozialismus dominierten, als ein anzustrebendes Ideal betrachtet. Dagegen argumentierte Marx, dass diese Eigentumsform im Zuge der kapitalistischen Entwicklung zunehmend antiquiert und irrelevant werde, da die kapitalistische Entwicklung selbst die Produktionsmittel im Rahmen des privaten Eigentums und Marktkonkurrenz sozialisiere. Daraus folgt, dass die Produktionsmittel nur kollektiv angeeignet werden können, indem der Rahmen des Privateigentums überschritten und das gesellschaftliche Eigentum angestrebt wird. Die kapitalistische Entwicklung hat die arbeitende Bevölkerung proletarisiert, indem sie sie von den Produktionsmitteln trennte, die Arbeitsformen selbst sehr viel kooperativer gestaltete und die Möglichkeit der Wiederherstellung des Kleineigentums ausschloss, sollten die gegenwärtigen Produktionsformen erhalten und verbessert werden. Eine Rückkehr zu individuellen Eigentumsformen ist dementsprechend unmöglich, so dass die einzige Möglichkeit der Emanzipation der Produzenten in der Form der kollektiven Aneignung liegt.
Daraus ergibt sich der nächste Abschnitt der Einleitung, in dem die Notwendigkeit der Klassenunabhängigkeit des Proletariats und seiner Organisierung als politische Partei dargelegt wird: „die kollektive Aneignung [kann] nur von einer revolutionären Aktion der Klasse der Produzenten – dem Proletariat -, in einer selbständigen politischen Partei organisiert, ausgehen“.6 Mit anderen Worten: nur das Proletariat als Klasse wird sich im Zuge des Klassenkampfs gezwungen sehen, die Produktionsmittel anzueignen, da es selbst keine Eigentumstitel besitzt, welche ihm ein Interesse an der Aufrechterhaltung des Systems der privaten Aneignung geben würde. Aus diesem Grund muss sich das Proletariat in einer eigenständigen politischen Partei organisieren, und eine Politik führen, die seine Bedürfnisse als Klasse zum Ausdruck bringt. Daraus folgt nicht, dass nur Proletarier:innen der Partei angehören oder von ihrer Politik profitieren können. Bauern, Intellektuelle, Fachkräfte, sogar Klassenverräter aus der Bourgeoisie können Mitglied der Partei sein. Sie müssen aber, wenn sie in die Partei eintreten, ihre partikularen Klasseninteressen vor der Tür lassen und für die Interessen des Proletariats kämpfen, auch wenn sie dadurch in Widerspruch mit ihrer eigenen Klasse geraten.
Weiter heißt es, dass diese unabhängige Klassenpartei ihre Ziele mit allen erforderlichen Mitteln verfolgen soll. Als Beispiel für ein solches Mittel wird jedoch nicht der bewaffnete Kampf oder der Generalstreik angeführt, sondern das allgemeine Wahlrecht, dass „so aus einem Instrument des Betrugs, das es bisher gewesen ist, in ein Instrument der Emanzipation umgewandelt wird“.7
Der Kampf des Proletariats als Klasse muss durch Massenpolitik und nicht durch Aktionen militanter Minderheiten geführt werden, und das bedeutet, dass es bei Wahlen mit den Parteien der Bourgeoisie konkurrieren muss. Marx wusste von den Grenzen des Wahlverfahrens und ihm war klar, dass es von der Bourgeoisie als Legitimationsmittel genutzt wurde. Er erkannte aber auch, dass das allgemeine Wahlrecht ein enormes Unterwanderungspotential als Instrument des Proletariats besitzt. Die Wahlarena darf nicht allein in den Händen der Bourgeoisie bleiben, sondern muss von der Arbeiterpartei bestritten werden, die ihre Politik so in die nationale Arena einbringt.
Die Einleitung endet mit der Ankündigung, dass die Parti Ouvrier mit einem Minimalprogramm zu den Wahlen antreten wird, welches im nachfolgenden Text dargelegt wird. Bevor auf diese Minimalforderungen eingegangen wird, muss betont werden, dass die Einleitung als Maximalprogramm verstanden werden kann. Es stellt das Ziel der Partei dar, das nach einer Periode des wirtschaftlichen Wiederaufbaus und der sozialen Transformation erreicht werden soll. Sie beschreibt das allgemeine Ziel der menschlichen Emanzipation, das durch die Eroberung der Macht durch das Proletariat und seine Partei und durch die Kollektivierung der Produktionsmittel erreicht werden soll. Anders ausgedrückt: die Einleitung ist ein Bekenntnis zum langfristigen Ziel über den Kapitalismus hinauszugehen, hin zu einer kommunistischen Gesellschaft.
Die im Text darauffolgenden Forderungen haben sowohl einen politischen als auch einen wirtschaftlichen Charakter, und stellen ein Minimumprogramm dar. Sie beinhalten unmittelbare Veränderungen, die die Partei vor der Machtübernahme erkämpfen und kollektiv umsetzen wird. Betrachten wir diese Forderungen im Detail, so werden wir zwei wichtige Punkte feststellen: Erstens werden diese einzelnen Forderungen für sich genommen keinen Bruch mit der kapitalistischen Wirtschaftsform herbeiführen. Zweitens wird nur die Verwirklichung dieser Forderungen in ihrer Gesamtheit einen Bruch mit der kapitalistischen Herrschaft über den Staat und die Errichtung der politischen Herrschaft des Proletariats mit sich bringen. Kurz gesagt, das Ziel eines Minimalprogramms ist nicht einfach eine Liste von Reformen zu formulieren, für die eine Partei kämpft um Unterstützung und Popularität zu gewinnen, sondern eine Art Fahrplan für die Übernahme der Staatsmacht durch das Proletariat im Zuge eines revolutionären Bruchs.
Nicht nur im Programm der Parti Ouvrier findet sich dieses Minimum-Maximum-Format. Wie Jack Conrad dargelegt hat, findet man es im Manifest der Kommunistischen Partei, im Erfurter Programm von 1891 und im Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands von 1902.8 Das Programm der Parti Ouvrier steht im Mittelpunkt dieses Artikels, da es einen sehr einfachen und klaren Ausdruck dieses Formats darstellt, und da eine genaue Lektüre des Texts – insbesondere der enthaltenen politischen Forderungen – viele Missverständnisse über das Wesen des Formats klärt.
Politische und Ökonomische Forderungen
Die erste Forderung des politischen Teils ist aufschlussreich, weil sie sich auf die demokratischen Rechten der Arbeiter:innenklasse fokussiert:
„Abschaffung aller Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsgesetze und vor allem des Gesetzes gegen der Internationalen Arbeiterassoziation. Streichung des ‚Livret‘, der Karte der Arbeiterklasse und aller Artikel des Gesetzbuches, die die Unterlegenheit der Frau gegenüber dem Mann festschreiben.“9
Marx und Guesde beschäftigen sich hier vor allem mit der politischen Freiheit – dem ‚Licht‘ und der ‚Luft‘ des Proletariats, ohne die es nicht atmen kann. In Anbetracht der Geschichte des „Realsozialismus“ mag dies für einige überraschend sein. Sollte die Unterdrückung der bürgerlichen Presse schließlich nicht eine Priorität sein? Natürlich sollten wir nicht zulassen, dass kapitalistische Monopolen großteile der Medien kontrollieren, wie sie es heutzutage tun. Hier ist auch klar, dass es Marx um die Pressefreiheit für die Arbeiter:innenklasse geht, da er gleichzeitig schreibt, dass der Fokus auf den Gesetzen gegen die Internationale Arbeiterassoziation liegen sollte. Der Fokus liegt hier nämlich auf der Regierungsfähigkeit der Arbeiter:innenklasse, was in Marx‘ Augen Presse- und Vereinigungsfreiheit bedeutet. Die Frage der Unterdrückung der bürgerlichen bzw. kapitalistischen Presse spielt hier eine sekundäre Rolle und wird in Abhängigkeit zu den genaueren Umständen der Revolution gestellt.
Als nächstes wird das Livret erwähnt. Im Wesentlichen ist es eine Form der Zwangsarbeit bzw. Schuldknechtschaft, die bis 1890 in Frankreich existierte. Das Livret glich einem Reisepass, der nötig war, um den Arbeitgeber zu wechseln. Darin wurden ausstehenden Schulden und Verpflichtungen gegenüber ehemaligen Arbeitgebern aufgelistet. Um den Arbeitgeber wechseln zu können, mussten diese erst beglichen werden. Ein solches System illustriert die Rückständigkeit des französischen Kapitalismus dieser Zeit, welcher noch nicht in der Lage war, die Bedrohung der Arbeitslosigkeit für sich zu nutzen um die Arbeitskraft zu kontrollieren, sondern auf offen repressive Mittel wie internen Pässe angewiesen war. Der Abschaffung des Livrets folgt die Forderung nach der Abschaffung aller Gesetze des napoleonischen Code (bürgerliches Gesetzbuch, A.d.Ü), welche die „Minderwertigkeit des Arbeiters in Bezug auf den Chef“ gewährleisten, sowie diejenigen, welche die Minderwertigkeit der Frau in Bezug auf den Mann durchsetzen. Diese Forderungen mögen keinen Bruch mit der bürgerlichen Regierung erfordern, sind aber dennoch notwendig (aber nicht ausreichend) für eine solche Aufgabe.
Nach der Diskussion über die Pressefreiheit und das Livret, gehen Marx und Guesde zu einer im wesentlichen anti-klerikalen Forderung über, und zwar die „Abschaffung der Haushalte der religiösen Orden“ und „die Rückgabe des „sogenannten Eigentums, Möbeln sowie Gebäude, die der Religiösen Körperschaften gehören“, unter Berufung auf das Beispiel der Pariser Kommune. Sie fordern ebenso die „Abschaffung der öffentlichen Schulden“. Beide Forderungen sind von der Pariser Kommune inspiriert, und sind im Wesentlichen mit einer tiefgreifenden bürgerlich-demokratischen Revolution vereinbar und nicht zwangsläufig Forderungen, die eine Diktatur des Proletariats erfordern. Die nächsten beiden Forderungen sind die wichtigsten um das Minimalprogramms nicht nur als reformistische Forderungen zur Mobilisierung der Arbeiter:innen zu verstehen, sondern auch als ein Programm mit revolutionären Inhalt. Die erste der beiden Forderungen ist die nach der Volksbewaffnung: „Abschaffung des stehenden Heeres und allgemeine Bewaffnung des Volkes.“ Darauf folgt die Forderung, dass die Gemeinde bzw. „Kommune“ die Kontrolle über ihre Verwaltung und Polizei haben soll.
Das Wesentlich bei diesen Forderungen ist, dass sie einen Bruch mit dem bestehenden französischen Staat bedeuten würden, also mit der von französischen Radikalen als „Monarchie ohne Monarch“10 angeprangerte Dritten Republik. Die Abschaffung des stehenden Heeres und die Volksbewaffnung, gepaart mit der Übertragung der Verwaltung und Kontrolle der bewaffneten Kräfte zur Kommune, stellten einen Transfer der Souveränität und ein Bruch mit der allgemeinen bestehenden Staatsform dar. Der Verweis auf die Pariser Kommune verdeutlicht dies. Mit dem Bezug auf die Kommune macht Marx klar, dass die wichtigste Lektion der Kommune darin bestand, dass „die Arbeiterklasse […] nicht die fertige Staatsmaschinerie einfach in Besitz nehmen und diese für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen“11 kann. In ihrer Gesamtheit sind diese Mindestforderungen daher keine bloßen Reformen, sondern ein Aufruf zu einem radikalen Bruch mit dem bestehenden Staat und einer Machtübergabe an die Arbeiter:innenklasse in einer neuen demokratischen Republik.
Die Radikalität dieser politischen Forderungen ging an Guesde vorbei, der die Forderungen des Programms als bloße Slogans sah um die Arbeiter:innen zu bewegen, in der Hoffnung dass sie einen wirklich revolutionären Kampf aufnehmen würden. Marx selbst interessierte sich für einen solchen Verbalradikalismus nicht, und betonte den praktischen-, und zugleich Übergangscharakter dieser Forderungen. Sie sollten der Arbeiter:innenbewegung einen praktischen Fahrplan für die Übernahme der politischen Macht geben, und nicht bloße Slogans, um Massenstreiks und die Gründung von Arbeiter:innenräte zu befeuern. Es war diese Ablehnung von Guesdes leeren Parolen, welche die chronisch missbrauchte Aussage von Marx inspirierte, dass wenn dies der Marxismus sei, „dann ist eines sicher, dann bin ich kein Marxist.“12 Die Verwirrung über den revolutionären Charakter dieses Programms kommt womöglich vom Charakter der wirtschaftlichen Forderungen. Dazu gehören Dinge wie die Reduzierung des Arbeitstags auf acht Stunden und der Arbeitswoche auf nicht mehr als sechs Tage, die gesellschaftliche Verantwortung für Gehörlose und Behinderte, die Aufsicht von Lehrlingen durch Arbeiter:innenvereinigungen, Abschaffung der Erbschaft über einen bestimmten Betrag, das Verbot Migrant:innen einen Lohn zu zahlen, welcher unter dem der französischen Arbeiter:innen liegt – und andere Forderungen, die im wesentlichen Reformen sind. Diese benötigen keinen Bruch mit Kapitalismus als ökonomisches System, während die politischen Forderungen, in ihrer Gesamtheit, einen Bruch mit dem kapitalistischen Staat erforderlich machen.
Marx‘ zweistufige Revolution
Die Begründung dafür ist einfach. Marx sah die Revolution im wesentlichen als einen zweistufigen Prozess. Zunächst soll das Proletariat die politische Macht ergreifen und die demokratische Republik errichten. Innerhalb dieses neu geschaffenen Rahmens kann es nun die Aufgaben des Wiederaufbaus der Gesellschaft auf kommunistischer Basis übernehmen. Die Übernahme der politischen Macht durch das Proletariat führt nicht zwangsläufig zum Sieg des Sozialismus. Mit der Machtübernahme wird eine neue Phase des Klassenkampfes eingeleitet, in der das Proletariat die allgemeinen Zwangsmittel (des Staates, A.d.Ü.) beherrscht. Klassen, sowie die kapitalistische Produktionsweise, existieren weiterhin. Die Diktatur des Proletariats als Formulierung beinhaltet die Existenz des Proletariats, also die Existenz der Klassen. Somit kommt es zu der widersprüchlichen Situation, dass die ausgebeutete Klasse nun die Macht über die Ausbeuter:innen hat. Nur durch den Sieg der kommunistischen Bewegung kann dieser Widerspruch aufgelöst werden.
Marx argumentiert in seinen Schriften zur Pariser Kommune, dass der historische Prozess selbst eine allgemeine Form des Proletariats an der Macht offenbart hat. Die Kommune griff kaum in die Privateigentumsverhältnisse ein. Was die Kommune revolutionär machte, war dass sie die Form des Staates radikal veränderte und eine radikale Demokratie etablierte, welche es der Klasse der Lohnabhängigen erlaubte, sich in eine Position der politischen Vorherrschaft zu erheben. Maßnahmen wie die Entlassung von Delegierten, den Lohnabgleich und die Volksbewaffnung waren alle dazu gedacht, die kapitalistische Klasse politisch zu enteignen. Indem sie die Arbeiter:innenklasse an die Macht brachte, „bietet die Kommune das rationale Medium,“ so Marx, „durch das der Klassenkampf auf die rationalste und humanste Weise seine verschiedenen Phasen durchlaufen kann.“13 Zusammen mit Engels‘ Bemerkung, die Pariser Kommune sei ein Beispiel für die Diktatur des Proletariats, setzt dies die ersten Schritte einer Theorie des Übergangs als Klassenkampf. Ein Staat, in dem das Proletariat regiert, ist immer noch eine Situation, in der das Proletariat als Klasse existiert, und somit keine klassenlose Gesellschaft. Es ist lediglich der erste Schritt zu einer solchen Gesellschaft, was es jedoch nicht weniger einen Bruch mit der bestehenden sozialen Ordnung macht.
Das Übergangsprogramm als Alternative
Das Minimum-Maximum-Programm, wie es im Programm der Parti Ouvrier zum Ausdruck kommt, wird oft negativ mit Leo Trotzkis Übergangsprogramm verglichen, welches ursprünglich 1938 als Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der 4. Internationale veröffentlicht wurde. Nathaniel Flakins Artikel In Defense of the Transitional Programm14 in der Zeitschrift Left Voice ist ein Beispiel für einen solchen negativen Vergleich, der sich gegen den Ansatz richtet den ich, sowie die Genoss:innen im Cosmonaut Magazine und im Marxist Unity Slate innerhalb der Democratic Socialists of America (DSA) verfolgen. In Übereinstimmung mit der geläufigen Auffassung, es handele sich bei den Forderungen des Programms der Parti Ouvrier nur um alltägliche Reformen, argumentiert Flakin, dass das Minimum-Maximum-Format aufgrund der damaligen Unreife des Kapitalismus angenommen worden sei. Des Weiteren vertritt Flakin die These, dass das Minimum-Maximum-Programm einen Grund für die Passivität und den Reformismus der SPD, eine Ursache des Verfalls dieser Partei in der Form ihrer Unterstützung des Ersten Weltkriegs sei – eine offenkundig stark vereinfachte historische Darstellung.
Flakin zufolge beinhaltet das Minimum-Maximum-Programm keine Vermittlung zwischen Minimal- und Maximalforderungen, so dass es für eine Zeit, in der sich die Widersprüche des Kapitalismus verschärft haben, ungeeignet sei. Die Krise des Kapitalismus habe sich dermaßen verschärft, so Flakin, dass keine Zeit übrig bleibe für „mehrere Jahrzehnte, in denen die sozialistische Bewegung politische und wirtschaftliche Zugeständnisse von der Bourgeoisie erlangen und die Frage des Sozialismus in die ferne Zukunft verlegen kann“. Daher sei es erforderlich, Forderungen aufzustellen, welche in jeglicher Weise zu einer revolutionären Situation führen würden, wenn sie von der Arbeiter:innenklasse aufgegriffen und verfolgt werden würden. Diese Idee ist in Trotzkis eigenem Übergangsprogramm verwurzelt, welches mit der Feststellung beginnt, dass die objektiven Kriterien für eine Revolution erfüllt sind und lediglich der subjektive Faktor der revolutionären Führung noch erfüllt werden muss. Diese Schlussfolgerung impliziert, dass die Arbeiter:innenklasse im Wesentlichen nur bessere Führungspersönlichkeiten benötigt, die in der Lage sind, effektivere Slogans und Forderungen zu formulieren als die Reformist:innen und Stalinist:innen, die nur die revolutionären Arbeiter:innenmassen zurückhalten.
In seiner Argumentation führt Flakin das Beispiel des Wohnens an. Eine tatsächliche revolutionäre Partei würde demnach die Arbeiter dazu aufrufen, sich an der „Besetzung von Luxus-Eigentumswohnungen und Bürogebäuden zu beteiligen, um alle Arbeiter:innen- und armen Familien unterzubringen“. Auf diese Weise könnten die Besetzungen in einen Plan integriert werden, der das Ziel verfolgt, alle Wohnungen zu vergesellschaften und deren Verwaltung durch die Mieter:innen und ihre Vertreter:innen im Rahmen einer direkten Demokratie zu gewährleisten. Unbeantwortet bleibt jedoch die Frage, welche Organisation die Leitung einer solchen Besetzung übernehmen soll. Mann kann davon ausgehen, dass die Forderungen lediglich ein Mittel sind, um Arbeiter:innen zum Handeln aufzurütteln, in der Hoffnung, dass sich solche Kämpfe auf ganz natürlichem Wege in einen Kampf für den Sozialismus entwickeln, sobald die Arbeiter:innen erkennen, dass die bürgerliche Polizei die Besetzung von Luxuswohnungen nicht toleriert.
Es handelt sich im Wesentlichen um eine Strategie der Ungeduld. Anstatt das Programm als Mittel zu nutzen, um die Arbeiter:innenklasse für eine gemeinsame Vision des politischen Wandels zu vereinen, besteht das Ziel darin, Slogans und Taktiken zu entwickeln, welche die Massen mobilisieren sollen, in der Hoffnung, dass dies zu einem „Übergang“ zum echten Kampf für den Sozialismus führt. Wie dieser Übergang aussieht, bleibt unklar. Flakin nennt Arbeiter:innen- und Fabrikräte, in der Annahme, dass die Forderungen einer trotzkistischen Partei möglicherweise einen Beitrag zu ihrer Gründung leisten könnten. Selbst wenn diese Annahme zutrifft und die Arbeiter durch ihren Kampf in Bewegung gesetzt werden und Räte bilden, stellt die bloße Existenz von Räten keinen adäquaten Ersatz für eine Arbeiter:innenmehrheit dar, die eine politische Umwälzung anstrebt und über ein konkretes Konzept zur Umsetzung dieser verfügt. Massenaktion der Klasse sind keinen Ersatz dafür. Letztendlich kann das Übergangsprogramm, wie es hier geschildert wird, bei der Frage, wie dessen Forderungen einen Übergang zum Sozialismus bewerkstelligen sollen, nur auf Spontanität zurückgreifen.
In seiner Argumentation räumt Flakin ein, dass die von der Marxist Unity Group vertretene Version des Minimum-Maximum-Programms darauf abzielt, die Klassenherrschaft der Bourgeoisie zu brechen. Wo liegt also das Problem? Es bestehe keine Klarheit darüber, wie dieser Übergang gestaltet werden sollte, und die Trennung zwischen dem Minimum und dem Maximum sei willkürlich. Was den ersten Einwand betrifft, so ist der Übergang, den diese Auffassung des Übergangsprogramms zwischen seinen Forderungen und dem direkten Kampf für den Sozialismus propagiert, trügerisch. Die Arbeiter:innen sollen sich zu militanten Aktionen hinreißen lassen, damit eine revolutionäre Situation entsteht. Oder zumindest eine Massenaktion, die die Arbeiter:innen zu einem späteren Zeitpunkt zu einer solchen inspiriert. Die Idee ist also, dass Übergangsforderungen die Arbeiter:innen zu Aktionen mobilisieren, indem ein Bedarf für Arbeiter:innenräte entstehen soll. Die revolutionäre Avantgarde kann anschließend den Räten den Weg weisen. Solche Szenarien sind bestenfalls ein Wunschtraum, schlimmstenfalls sind sie ein Versuch die Arbeiter:innenklasse durch eine List zur Revolution zu verleiten.
Der zweite Einwand, eine Minimum-Maximum-Teilung sei sinnlos wenn unser Programm tatsächlich revolutionär ist, übersieht, dass eine sozialistische Revolution ein zweistufiger Prozess ist.15 Die Mindestforderungen, in ihrer Gesamtheit, sollen die politische Macht der Arbeiter:innenklasse schaffen. Wie bereits erwähnt ist dies nicht gleichzusetzen mit der Errichtung einer sozialistischen Wirtschaft. Es geht nur darum, die Herrschaft der Arbeiterklasse zu sichern und die Möglichkeit erst zu schaffen, die Wirtschaft im Sinne des Sozialismus umzugestalten. Der Klassenkampf geht weiter, verändert sich aber. Er zielt jetzt darauf ab, die Klassen selbst durch die Umgestaltung der Produktionsverhältnisse abzuschaffen. Das Minimalprogramm ist der erste Schritt, das Maximalprogramm der zweite. Vertritt man nicht gerade die Auffassung, dass die Revolution selbst ein Produkt bereits bestehender kommunistischer Produktionsverhältnisse ist, wie es verschiedene Ultralinke vorschlagen16, dann ist die Trennung von Minimum und Maximum nicht willkürlich, sondern eine Klarstellung des Revolutionsprozesses selbst.
Letztlich ist Flakins Ansatz eine Art Verbalradikalismus, nur mit radikaleren Losungen als die, die Guesde im Programm der Parti Ouvrier formulierte. Die Arbeiter:innenklasse braucht keine Radikalen, die ihr sagen, dass sie Luxuswohnungen besetzen soll, in der Hoffnung, dass sie die Notwendigkeit des Sozialismus erkennen wird. Was sie braucht, ist eine Vision davon, welche Veränderungen notwendig sind, um mit der politischen Herrschaft der Bourgeoisie zu brechen, und eine Partei, die für diese Veränderungen in der Arena der Massenpolitik kämpft und die organisatorische Grundlage für eine neue proletarische Souveränität schaffen kann. Das Aufrütteln der Arbeiter:innen zu Massenaktionen ist keinen Ersatz für den Aufbau einer solchen Partei. Die modernen Trotzkist:innen von LeftVoice sind gewiss nicht gegen den Aufbau einer Arbeiter:innenpartei. Jedoch wirkt das Argument, die sozialistische Bewegung habe nicht „mehrere Jahrzehnten,“ indem sie „politische und wirtschaftliche Zugeständnisse von der Bourgeoisie erringen kann“ wie eine Ablehnung der Jahre des geduldigen Kampfes und der Bildung, die es braucht, um eine solche Partei aufzubauen, die die Legitimität zum Regieren besitzt.
Ein Minimum-Maximum-Programm für heute
Marx und Guesdes Minimum-Maximum-Programm für die Parti Ouvrier ist genau für diese Aufgabe gedacht. Es betont die politischen Veränderungen, die für eine Machtübernahme der Arbeiter:innenklasse notwendig sind und ermöglicht es, eine Mehrheit zu schaffen, die sich ihrer Ziele bewusst ist. Sie verspricht keine Abkürzungen zur Macht, keine falschen Hoffnungen, dass die Massen eine potentiell revolutionäre Situation herstellen, nachdem sie durch radikale Losungen zum Handeln angestachelt worden sind. Es verdeutlicht, dass die Revolution nichts anderes als die Errichtung einer demokratischen Arbeiter:innenrepublik ist, die den Weg zum wirtschaftlichen Wiederaufbau der Gesellschaft auf sozialistischer Grundlage eröffnen soll, und dass die Machtübernahme des Proletariats nur der Beginn einer neuen Etappe im Klassenkampf ist – nicht ein unmittelbarer Sprung in die kommunistische Gesellschaft. Es hebt den nach wie vor aktuellen Kampf um Demokratie hervor und schließt Verbalradikalismus und leere Handlungsaufrufe aus. Klarheit und Offenheit müssen das Markenzeichen aller Agitations- und Bildungsarbeit der sozialistischen Bewegung sein, und das Minimum-Maximum-Format wird diesen Idealen am besten gerecht.
Dennoch ist das Minimum-Maximum-Programm nicht mehr als ein Format. Programme sind nicht in Stein gemeißelt, und können dementsprechend nicht einfach aus der Vergangenheit auf unsere eigene politische Situation übertragen werden. Politische Programme müssen sowohl auf den gesammelten Erfahrungen und Theorien unserer historischen Bewegung als auch auf einem tiefen Verständnis der gegenwärtigen politischen Situation beruhen. Bei der Erarbeitung eines solchen Programms müsste eine entstehende sozialistische Bewegung heute Forderungen entwickeln, die den aktuellen Bedürfnissen der Lohnabhängigen und ihren laufenden Kämpfen entsprechen. Sie müsste aber auch Forderungen aufstellen, die vielleicht nicht unmittelbar beliebt sind, die aber „richtig“ in dem Sinne sind, dass sie notwendige Schritte der proletarischen Revolution darstellen. Ziel eines Programms sollte nicht nur darin bestehen, die Forderungen der Klasse der Lohnabhängigen zum Ausdruck zu bringen, sondern auch darin, revolutionäre Forderungen in die Massenpolitik einzubringen. Oft werden diese Forderungen im Widerspruch zum vorherrschenden Bewusstsein stehen. Das Programm sollte also ebenso ein Bildungsinstrument sein, das die Schritte zur Realisierung einer sozialistischen Umwälzung aufzeigt.
Nehmen wir als Beispiel die Frage der Polizei, die die Gesellschaft in den USA stark spaltet. Nach einigen Umfragen sind 67 % der US-Bürger:innen gegen die Abschaffung oder den Abbau der Polizei, während 43 % dafür sind, Mittel aus dem Polizeihaushalt auf andere soziale Dienste zu übertragen. Um diese Frage programmatisch anzugehen, dürfen wir weder in die Falle tappen, Meinungsumfragen hinterherzulaufen, noch dürfen wir einfach die Slogans sozialer Bewegungen unreflektiert übernehmen. Ein marxistisches Programm sollte die Aufgaben der proletarischen Revolution in Hinsicht auf die Frage der Selbstverteidigung klären, was klassischerweise die Abschaffung der gegenwärtigen Streitkräfte zugunsten der Bewaffnung der Arbeiter:innenklasse durch ihre Organisation als Volksmiliz bedeutete. Marxist:innen haben diese Forderung aufgegriffen, weil sie erkannt haben, dass die Arbeiter:innenklasse den repressiven bürgerlichen Staatsapparat zerschlagen muss, um ihre eigenen Institutionen aufzubauen – anstatt zu hoffen, die Staatsmacht als Instrument nutzen zu können. Es reicht nicht aus, die Abschaffung der Polizei als Übergangsforderung aufzustellen, in der Hoffnung, dass sich die Massen dadurch mobilisieren lassen, sobald sie die Notwendigkeit ihrer Abschaffung erkennen, um ihre Ziele zu erreichen. Es schafft nicht die Klarheit, die ein Programm schaffen sollte. Auch die Forderung nach einer Streichung von Polizeimitteln zugunsten sozialer Dienste reicht nicht aus. Das mag für die bestehende öffentliche Meinung naheliegender sein, schildert aber nicht die notwendigen Aufgaben, die die Arbeiter:innenklasse nach der politischen Revolution zu erfüllen hat.
Dies gilt für Fragen der Demokratisierung des Staates und der Verfassung. Die Loyalität gegenüber der US-Verfassung ist ein fester Bestandteil der US-Politik, aber ein angemessenes politisches Programm in diesem Land würde dennoch ihre Abschaffung und die Ausarbeitung einer explizit sozialistischen Verfassung als Grundlage für eine neue demokratische Republik fordern. Es würde die Notwendigkeit von Reparationen und das Recht auf Selbstbestimmung für die internen Neokolonien aufgreifen. Der Wirtschaftsteil würde die grundlegende Vergesellschaftung der Führungsetagen der Wirtschaft sowie die Notwendigkeit einer radikalen Umgestaltung der Infrastruktur und der Stadtplanung darlegen. Es würde das derzeitige Arbeitsrechtssystem abschaffen und ein neues Arbeitsregime einführen, das auf der Initiative der Arbeiter in den Betrieben beruht. Indem ein solches Programm sich weigert, nur Forderungen aufzugreifen, die bereits populär sind und daher kurzfristig gewonnen werden können, ist die Partei gezwungen, unter den Massen für ihre Überzeugungen zu kämpfen und die Notwendigkeit einer Revolution anstelle bloßer Reformen zu begründen.
Indem wir den Minimalteil des Programms zu einer Beschreibung der grundlegenden Aufgaben der Arbeiter:innenklasse in einer politischen Revolution machen, kann unsere Bewegung diese grundlegenden Fragen des institutionellen Umbruchs in unsere Basisagitation einbringen. Dies wird immer wertvoller sein als eine Herangehensweise, die sich darauf beschränkt, reformistische Forderungen aufzugreifen oder zu militanten Aktionen aufzurufen, die ins Leere laufen. Unsere Bewegung kann die Öffentlichkeit ehrlich und offen über die politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen informieren, die wir nach einer Machtübernahme durchzusetzen hoffen, und das langfristige Ziel der Emanzipation artikulieren, zu dem sie uns führen sollen. Das Minimum-Maximum-Programm im Geiste von Marx‘ und Guesdes Programm der Parti Ouvrier ist kein Wunschzettel an den kapitalistischen Staat, sondern ein Plan für den Aufbau einer revolutionären Arbeiter:innenbewegung, die sich dessen bewusst ist wofür sie kämpft, und von ihren politischen Zielen überzeugt ist. Damit ein solches Programm nicht eine Fantasie bleibt, müssen wir für die Einheit der marxistischen Linken streiten und das Ziel des Sozialismus unter die breite Masse der Lohnabhängigen bringen, die sich bisher noch nicht politisch in Bewegung gesetzt haben.
- Karl Marx und Jules Guesde, The Programme of the Parti Ouvrier. (1880) https://www.marxists.org/archive/marx/works/1880/05/parti-ouvrier.htm ↩︎
- Leslie Derfler, Paul Lafargue and the Founding of French Marxism, 1842-1882 (Massachusetts, Harvard University Press, 1991), 184-185. ↩︎
- Ibid., 185-186. ↩︎
- Brief von Engels an Eduard Bernstein, 25. Oktober 1881. In Eduard Bernstein, Die Briefe von Friedrich Engels an Eduard Bernstein (Berlin, J. H. W. Dietz Nachf., 1925), 34. https://archive.org/details/diebriefevonfrie00bern/page/34/mode/2up ↩︎
- Karl Marx, Einleitung zum Programm der französischen Arbeiterpartei. (1880) http://www.mlwerke.de/me/me19/me19_238.htm ↩︎
- Ibid. ↩︎
- Ibid. ↩︎
- Jack Conrad, „Our Republic.“ Weekly Worker, 2006. https://weeklyworker.co.uk/worker/650/our-republic/ ↩︎
- Karl Marx, Einleitung zum Programm der französischen Arbeiterpartei. (1880) http://www.mlwerke.de/me/me19/me19_238.htm ↩︎
- Samuel Bernstein. “Jules Guesde, Pioneer of Marxism in France.” Science & Society 4, no. 1 (1940): 29. ↩︎
- Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich. (1871) https://www.marxists.org/deutsch/archiv/marx-engels/1871/05/30-burfr.htm ↩︎
- Brief von Engels an Eduard Bernstein, 2-3. November 1882. In: Bernstein, Eduard, Die Briefe von Friedrich Engels an Eduard Bernstein (1925), 93. ↩︎
- Zitat aus Monty Johnstone, “The Paris Commune and Marx’s Conception of the Dictatorship of the Proletariat.” The Massachusetts Review, vol. 12, no. 3, 1971, 447–462. ↩︎
- Nathaniel Flakin, „In Defense of the Transitional Program.“ LeftVoice, 2021. https://www.leftvoice.org/in-defense-of-the-transitional-program/ ↩︎
- Siehe dafür zum Beispiel: Karl Kautsky, Die Soziale Revolution. (1902) https://www.marxists.org/archive/kautsky/1902/socrev/ ↩︎
- Ein Beispiel dafür ist: Gilles Dauvé und François Martin, Eclipse and re-emergence of the communist movement. (1968)
https://libcom.org/article/eclipse-and-re-emergence-communist-movement-gilles-dauve-and-francois-martin ↩︎