Zeitschrift für marxistische Debatte und Einheit

Was, wenn wir morgen einfach alle auf die Straße gehen?

By Jonathan Rashad - Flickr, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=13683096

Der Massenprotest, statt der klassischen Parteiarbeit, ist mittlerweile die dominante Strategie des sozialen Widerstandes für die globale Linke geworden. Viktor Kubin problematisiert diese Entwicklung in seinem Artikel anhand von Vincent Bevins Buch If We Burn: The Mass Protest Decade and the Missing Revolution.

Ägypten, 11. Februar 2011: Nachdem sich landesweite Proteste, an denen Millionen von Menschen teilnehmen, ausgehend vom Tahrir-Platz in Kairo, zwei Wochen wie ein Lauffeuer auf den Straßen Ägyptens ausbreiten, sieht sich Präsident Hosni Mubarak gezwungen von der Macht abzutreten. Türkei, Juni 2013: drei Millionen Menschen protestieren gegen die Regierung. Am 13. Juni 2013 unternimmt Recep Tayyip Erdoğan einem „letzten verzweifelten Versuch“ die Lage unter Kontrolle zu halten und tritt in direkte Verhandlungen mit dem Epizentrum der Protestwelle, dem Sit-in Protest im Gezi Park in Istanbul ein. Brasilien, 20. Juni 2013: Nach etwa einer Woche landesweiter Massendemonstrationen hat die Movimento Passe Livre Protestbewegung, welche sich gegen eine Erhöhung der Preise der öffentlichen Verkehrsmittel in São Paulo erhoben hat, ihr vermeintliches Ziel erreicht: Präsident Dilma Rousseff und Bürgermeister der Stadt Fernando Haddad ziehen unter dem Druck der Menschenmengen die Preiserhöhung zurück. Mit diesem Triumph beginnt eine der größten Demonstrationen in der Geschichte Brasiliens, zwei Millionen Menschen in mehr als hundert Städten im Land treibt es auf die Straße.

In den 2010ern erlebten wir solche explosiven und systemgefährdenden Massenproteste scheinbar alle paar Jahre rund um die Welt. Vincent Bevins’ 2023 erschienenes Buch If We Burn: The Mass Protest Decade and the Missing Revolution (dt.: Wenn wir brennen: das Jahrzehnt der Massenproteste und die fehlende Revolution) ist eine faszinierende Beschreibung und Analyse der Massenproteste der 2010er, die von großem Interesse für Sozialisten jeder Art ist. Denn wie ich in diesem Artikel argumentieren werde, wäre eine Wiederholung der Fehler der Protestbewegungen der 2010er Jahre katastrophal.

In Revolutionary Strategy1 (dt.: Revolutionäre Strategie) unterteilt Mike Macnair die verschiedenen strategischen Ansätze geschichtlicher revolutionärer Bewegungen in zwei grobe Kategorien: die der Parteiarbeit und die des Massenstreiks. Während viele Linke heutzutage bei der ersteren Strategie vor allem an die Vergangenheit denken – so z.B. die SPD vor dem ersten Weltkrieg und die kommunistischen Parteien der dritten Internationale, so hat die letztere Strategie in den letzten Jahrzehnten einen zentralen Stellenwert in der sozialistischen Bewegung eingenommen. Massenproteste, die den normalen Gang der Gesellschaft signifikant unterbrechen, sind dabei als Teil der Massenstreikstrategie zu verstehen. Hier stehen Horizontalität, antiautoritäre Haltung, Spontaneität, Präfiguration und Straßenkämpfe im Vordergrund. So schreibt Bevins in der Einleitung zu If We Burn: „Es lässt sich feststellen, dass bestimmte Ansätze zwischen 2010 und 2020 moralisch und taktisch bevorzugt waren. Zu unterschiedlichen Graden hörte man immer wieder, dass es sich hier um ‚horizontal‘ organisierte, spontane, digital koordinierte Massenproteste in den Straßen und auf öffentlichen Plätzen von Städten handelte.“2

Für die Befürworter solcher und ähnlicher Strategien ist klar, dass die Parteiarbeit keinen Weg zum Sozialismus bietet, da sie zur Reproduktion autoritärer, grundlegend unsozialistischer Strukturen führen muss. Blicken wir auf die fünf Kontinente umspannenden Massenproteste der 2010er, sehen wir hier nicht den vermeintlichen Beweis für den Erfolg und die Überlegenheit der Massenstreikstrategie? Nie zuvor waren mehr Menschen auf der Straße zum Protestieren, Träumen und Kämpfen. Jahrzehntealte Regierungen wurden innerhalb von Wochen erfolgreich in die Knie gezwungen. Staatsoberhäupter wurden gezwungen, direkt mit den Menschen auf der Straße zu verhandeln, mussten abtreten, oder gar das Land verlassen. Ganze Gesellschaften kamen zum Stillstand. Ist dies nicht die Wunschvorstellung, wenn wir auf die Straße gehen?

Und dennoch blieb die erhoffte Revolution aus. In der Türkei, zum Beispiel, konnte Erdoğan seine Macht und Autorität behalten und ausweiten. In Brasilien folgte der Movimento Passe Livre Protestbewegung der Aufstieg der Ultra-Rechten (mit ihrer eigenen Protestbewegung) und Jair Bolsonaro. In Ägypten übernahm 2013 der militärische Führer Abdel Fattah el-Sisi die Macht. Tatsächlich kommt Bevins zu der ernüchternden Bilanz, dass sich die Lage in den meisten der betrachteten Länder, gemessen an den Zielen der Proteste, sichtlich verschlechtert hat und nur in Chile teilweise Erfolge erzielt werden konnten.

„Ich bin kein Historiker“ schreibt Bevins, ehemaliger Journalist für die Los Angeles Times und den Washington Post, in der Einleitung zum Buch. Aus Sicht der Geschichtsschreibung könnte man das Werk sicherlich für eine verfrühte „Epochenmacherei“ und die Auswahl der Protestbewegungen welche im Werk abgehandelt werden (Brasilien, Ägypten, Chile, Türkei, Ukraine, Hong Kong, Bahrain, Jemen, Syrien, und Süd-Korea) kritisieren. Doch mit solchen Kritiken wollen wir uns hier nicht weiter belangen, denn der Wert dieses Werks liegt nicht in seiner historischen Qualität: Dass ein signifikanter Teil der weltweiten Linken, einschließlich der Deutschen Linken, die Massenstreikstrategie und insbesondere den Massenprotest, als Primärstrategie für sich angenommen und die Parteiarbeit aufgegeben hat ist bekannt. Der wahre Wert dieses Werkes liegt darin, dass Bevins selbst in der Analyse zurücktritt und Menschen die an den Massenprotesten teilnahmen durch ihn sprechen lässt. So hat Bevins mehr als 200 Menschen in 12 Ländern, die mit diesen Bewegungen verbunden waren interviewt. Er gibt ihnen hier das Rampenlicht ihre eigenen Motive, Ziele und Enttäuschungen zu formulieren, was dieses Werk zweifellos zu einer einzigartigen und wichtigen Ressource für Sozialisten der 2020er macht. So schreibt Bevins in der Einleitung: „Ich habe versucht unsere Unterhaltungen auf ein paar scheinbar naive, beinahe dumme Fragen zu fokussieren: ‚Was führte zum Aufflammen des Protests? Was waren seine Ziele? Wurden sie erreicht? Wenn nicht, warum nicht? Und dann, statt die Menschen zu fragen was sie falsch gemacht haben oder wünschten anders gemacht zu haben, […] fragte ich sie oft so etwas wie ‚was würdest du einem Teenager in Tansania oder Mexico oder Kirgisistan sagen, der eine politische Explosion erleben könnte, oder versuchen wollte das Leben in seinem Land zu ändern?“3 So muss man feststellen, dass gerade ein Journalist die richtige Person war, um dieses Buch zu schreiben. Auch aus einem anderen Grund ist es interessant die Geschichten der Massenproteste aus der Perspektive eines Journalisten zu verarbeiten. Die bürgerliche Medienlandschaft, für die Bevins selbst tätig war und ist, ist einer der zentralen Gründe für das Fehlschlagen der Bewegungen.

Die Entfremdung von Protesten durch bürgerliche Medien und Unterhaltung

Alle der im Buch behandelten Bewegungen folgten einem ähnlichen Muster der explosionsartigen Ausbreitung: Typischerweise begannen diese Proteste mit einem kleinen Protest, oftmals einem „Sit-in“ (Sitzprotest) auf einem öffentlichen Platz in der Hauptstadt, bei dem es um ein konkretes gesellschaftliches oder politisches Problem ging. Wochen später ergriffen sie große Teile des Landes, umfassten eine weite und oftmals widersprüchliche Bandbreite politscher Anliegen, die vom Konkreten zum Utopischen reichten, und führten schließlich zu einer Systemkrise, mitunter bis hin zum Kollaps der Regierung. Hier erkennen wir also klar die Massenstreikstrategie. Tatsächlich war eine der charakteristischen Eigenschaften der Proteste der 2010er ihre radikale Ablehnung der Parteistrategie, ja sogar jeglicher politischen Repräsentation, welche als intrinsisch autoritär abgetan wurden. Meist waren selbst demokratische Verfahren zu viel Einschränkung der Selbstbestimmung.

Nun stellt sich zunächst die Frage: Wie erreicht ein unorganisierter Protest eine solche explosionsartige Vergrößerung, sowohl in der Zahl der Teilnehmenden, wie auch in der Bandbreite seiner politischen Anliegen? Die Antwort ist ein Verstärkungsprozess innerhalb der gewaltige digitalen Medienlandschaft unserer Zeit, denn ein Protest von dem niemand weiß ist ein Protest zu dem niemand kommt, und wenn es keine gemeinsame politische Organisation gibt, welche die Menschen auf die Straße treibt, so gehen sie, weil sie mit der Repräsentation der Demonstranten in den Medien die sie konsumieren sympathisieren.

Im kapitalistischen Weltsystem befinden sich die Medien größtenteils in den Händen des westlichen Kapitals und die einflussreichsten Journalisten kommen selbst aus bürgerlichen Verhältnissen. Das bedeutet zum einen, dass das amerikanische oder europäische Bürgertum die Repräsentation und Narrative weltweiter Proteste bestimmt und zum anderen, dass die Demonstranten selbst zu Performern werden, die versuchen die Gunst dieser höheren Mächte zu erlangen. Bevins beschreibt dies treffend in einem Interview mit dem Journalisten Chris Hedges: “Protestierende in anderen Ländern lernten welche Dinge westliche Medien hören wollten um sie dazu zu bringen positive Berichterstattung zu generieren und genau so – wie es jeder lernt, der eine bekanntere Persönlichkeit in den sozialen Medien wird – internalisierten sie diese [Verhaltensweisen], was oft zu anti-demokratischen Resultaten führte: Während des arabischen Frühlings und so weiter, war die Mehrheit auf der Seite Palästinas und gegen die USA, doch diese Einstellungen würden nicht die erwünschte Berichterstattung generieren. Diese braucht man jedoch, weil so die Massenproteste wachsen und funktionieren. Kommodifizierung der öffentlichen Aufmerksamkeit.“4 Hier sehen wir, wie die Abhängigkeit von der Repräsentation durch andere Instanzen mit oftmals gegensätzlichen Interessen zu einer Entfremdung der Demonstranten von ihren eigenen Bewegungen führt.

Dasselbe passiert auch bei Content in digitale Kommunikationsmedien wie YouTube, Twitter, Facebook, etc. Diese mögen zunächst “authentischer” wirken, in dem Sinne, dass an sich jeder Mensch sich und seine Gedanken selbst repräsentieren und auf eigene Faust die öffentliche Aufmerksamkeit für sich gewinnen kann. Doch auch hier unterliegt der Erfolg der Verbreitung einer inhärenten Logik, die meist nicht die Logik der normalen Nutzer, und schon gar nicht radikaler Menschen ist – Das ist das reale Limit der „Spontaneität“ der “digital koordinierten“ Protestbewegungen. Der erfolgreichste Content ist der, der gut konsumierbar und aufregend nach den Standards des kompetitiven Aufmerksamkeitsparasitismus des Tech-Kapitals ist (geschweige denn der Tatsache, dass die Algorithmen dieser Seiten erwiesenermaßen reaktionäre Inhalte stärker verbreiten als linke).

Dies hat bereits zu wahrlich bizarren Szenarien geführt: Auf dem Höhepunkt der Movimento Passe Livre Proteste in Brasilien, übernahmen hunderttausende Menschen die Slogans und Forderungen eines viralen „Anonymus“-Videos, in dem ein Mann in einer Guy Fawkes Maske die fünf Forderungen (5 causas) der Bewegung verkündete. Bevins hat den Mann aus dem Video für sein Buch identifiziert, ausfindig gemacht und zu den Ereignissen befragt: „Was war mit den fünf Forderungen, fragte ich [Bevins]? Wie hat die Bewegung diese entschieden? ‚Oh, niemand hat entschieden‘ antwortete er. Er hatte sie sich einfach ausgedacht. Er konstruierte die ‚Forderungen‘ aus Sachen die er auf Facebook gelesen hatte und entwarf dann eine Liste. Fünf schien ihm eine gute Zahl.“5

An sich muss diese Art stochastischer Ausbreitung nicht schlecht sein. Wir könnten uns ein Szenario vorstellen, in dem ein Video oder Post mit kommunistischen and antikolonialen Inhalten von einem anständigen Marxisten ähnlich erfolgreich wird und ein Massenprotest für freien öffentlichen Transport seine Slogans aufgreift. Solche positiven Entwicklungen sind in der Geschichte nicht unbekannt. In gewisser Weise ist dies die Fantasie heutiger „leninistischer“ Organisationen, ob sie nun trotzkistisch oder stalinistisch sind. Doch wie bereits oben beschrieben, unterliegen Protestbewegungen einem evolutionären Druck, der Bewegungen mit den „falschen“ Slogans schnell mit negativer oder reduzierter Berichterstattung abwürgt. Gibt es keine konkrete politische Partei oder Organisationen mit großer gesellschaftlicher Reichweite ist die Bewegung dem evolutionären Druck der Medienlandschaft hoffnungslos ausgesetzt und ähnlich wie die Bewegungen des arabischen Frühlings würden wahrscheinlich auch sie ihre Slogans und Repräsentation nach der Aufnahme der gefährlichen Slogans wieder abmildern und korrigieren. Und wir als Außenstehende können dem nichts entgegensetzen, denn wir, wie auch die Einzelperson auf der Straße, sind von den Protesten entfremdet.

Die Entfremdung dieser Bewegungen führt paradoxer Weise dazu, dass sie extrem schnell anwachsen können – ähnlich wie der „Hypecycle“ immer wieder dieses oder jenes Produkt „zum Mond“ schießt. Der Nachteil davon ist, dass Menschen einer Bewegung beitreten, die nicht wirklich existiert und die ursprünglichen Demonstrierenden von Menschen umringt werden, die sie möglicherweise eigentlich gar nicht als ihre Genossen ansehen würden. So finden wir in If We Burn immer wieder Beschreibungen von Demonstranten, die frustriert und hilflos zusehen, wie Menschen, die sich inspiriert von Medienberichten und Content in Social Media den Protesten anschließen, ganz andere Ideen und Ambitionen haben als die der ursprünglichen Bewegung – denn was die Proteste für die Öffentlichkeit sind, wird nun anderswo, von anderen Leuten bestimmt. So entsteht eine Dialektik, durch die sich die Bewegungen schnell in unvorhergesehene Richtungen entwickeln. Im besten Fall heißt dies, dass eine Bewegung „harmlos“ links-liberal wird. Im schlimmsten Fall überquert sie das politische Spektrum von einem Ende zum anderen und wird eine reaktionäre Nationalbewegung – Beispiele dafür finden sich in Brasilien und der Ukraine.

Auf ihrem Höhepunkt sind erfolgreiche und systemstürzende Massenprotestbewegungen für die Beteiligten so etwas wie eine spirituelle Erfahrung, in der sich plötzliche neue Welten, neue Zukünfte offenbaren: „Was ist aus diesen magischen, strahlenden Tagen geworden, diesen Momenten, als man zu spüren vermochte, dass sich die eigene Seele mit den Kräften der Geschichte vereint hat, dass man größer und mächtiger geworden ist? Das Gefühl, dass alle eure Unterschiede dahingeschmolzen wären und dass du und deine revolutionären Mitstreiter wirklich die Welt verändern, mit allem was ihr tut. Diese übernatürliche Erfahrung war etwas, das rund um die Welt stattfand und jeder stimmte zu, dass es wichtig war. Manche sagten, sie würden diese Tage für den Rest ihres Lebens wieder durchleben.“6 Und doch nahmen die Dinge für die meisten Massenprotestbewegungen eine ernüchternde Wende. Immer wieder kollabierte der Karneval der Ideen und Hoffnungen zu einer konkreten Linie, die von denen bestimmt wurden, die – anders als die Demonstranten – keine Hemmungen davor hatten sich zu organisieren, bewusste und konkrete Ziele zu formulieren und nach der Macht zu streben. Diese waren letztendlich Nationalisten und Faschisten, das Militär, ein anderes Land oder einfach ein anderer Flügel der bestehenden liberalen Ordnung.

Die inhärente Entfremdung spontaner horizontaler Massenbewegungen von den Menschen, die sie bilden, ist sehr ernst zu nehmen; genau sie ist das Problem. Wir werden bereits von einem entfremdenden System beherrscht und es ist genau der Punkt des Sozialismus, als Arbeitende wieder bewusste Kontrolle über die sozialen Verhältnisse zu erlangen.

Wie der Massenprotest der normale Ausdruck des Widerstandes wurde

Wir wollen uns nun mit der Frage beschäftigen, warum die Menschen in der Protestdekade und auch jetzt noch auf diese Art und Weise Widerstand leisten – auf den Straßen, horizontal, „antiautoritär“, digital, ohne Partei und ohne Programm. Die Kritik, die in diesem Artikel und Bevins‘ Buch an dieser Art von Bewegungen geleistet wird, sollte nicht als Angriff oder böswillige Beurteilung verstanden werden, sondern als Diagnose unseres eigenen Zustandes als Linke – denn diese Bewegungen wurden von den historischen gesellschaftlichen Bedingungen produziert. Keiner von uns steht außerhalb solcher Prozesse. Wenn wir darüber hinauswachsen wollen, müssen wir uns unserer Situation zunächst bewusst werden.

Bevins liefert in seinem Werk bereits eine gut fundierte materialistische Analyse der Ursprünge der Massenproteststrategie. Wir wollen hier ein paar Punkte näher beleuchten und ausführen. Vollkommen richtig beginnt Bevins seine Analyse der materiellen Grundlagen von Protestbewegungen so wie wir sie heute kennen, d.h. Proteste auf öffentlichen Plätzen in großen Städten, mit Ausrufungen und Parolen usw., mit der Entstehung von Nationalstaaten und der Presse. Diese waren auch Grundlegend für die Entstehung und den Aufstieg der Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert. Doch die Gründe für die aktuelle Dominanz der Massenproteststrategie gegenüber der Parteiarbeit finden wir in der weltweiten Zerstörung der Arbeiterbewegungen im 20. Jahrhundert.

In diesem Sinne ist If We Burn eine Fortsetzung zu Bevins’ vorherigen Buch The Jakarta Method, in dem es um die vom Westen unterstützten antikommunistischen Massenmorde in der dritten Welt geht, welche den Auftakt des neoliberalen Zeitalters bildeten. Es ist eben nicht der Fall, dass die Menschen, die sich an den fehlgeschlagenen Massenprotesten unserer Zeit beteiligen und die Parteiarbeit ablehnen, einfach „falsch“ liegen. Denn es gab und gibt „die Wirklichkeit der Konterrevolution“, wie Jamie Allison es in seinem gleichnamigen Artikel im britischen kommunistischen Magazin Salvage formuliert7, die uns zu diesem Punkt gebracht hat. Die Institutionen und Menschen, die die materielle und ideelle Grundlage des organisierten Wiederstandes der Arbeiterklasse bildeten mussten gezielt vernichtet werden, Millionen von Sozialisten mussten getötet werden, um uns in einem weltweit verkümmerten Zustand zurückzulassen.

Das neoliberale Zeitalter brachte vor allem Menschen hervor, die sich schwer damit tun, solidarisch und kollektiv zu handeln, sowohl weil eine gesamte Tradition der Organisation vernichtet wurde, als auch durch das kulturelle Umfeld dieser Epoche. Neben der allgegenwärtigen neoliberalen Propaganda in der alles vereinnahmenden Medien- und Unterhaltungslandschaft unserer Zeit belastet Linke von heute auch die Last des vermeintlichen Wissens über die Geschichte des Kommunismus. Wir sollten niemals in die typisch stalinistische und trotzkistische Haltung der selbstgefälligen Abwertung der antiautoritären Grundhaltung vieler linker Menschen verfallen. Solche sogenannten Antiautoritäre als „einfach bloß indoktriniert“ abzustempeln ist zu einfach. Nein, sie sehen, wenn auch nicht mit Klarheit, die realen, historischen Rückschläge der Parteistrategie. Die russische Revolution sollte den Auftakt zur sozialistischen Weltrevolution bilden und die Arbeiter Europas, vor allem Deutschlands, aufrütteln. Doch während russische Sozialisten ihre revolutionären Errungenschaften mit unvorstellbarer Tapferkeit im russischen Bürgerkrieg gegen die imperialistischen Weltmächte verteidigten, leitete keine andere als die erste Massenpartei der Arbeiterklasse, sogar die erste marxistische Partei, die Konterrevolution ein, arbeitete sogar mit den Vorgängern der Nazis zusammen um die deutsche Revolution von 1918 zu zerschlagen, und Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu ermorden. Die russische Revolution, faktisch keine Arbeiterrevolution, sondern eine plebejische8 Revolution in einem Land, dessen Arbeiterklasse von Beginn an eine Minderheit bildete, verlor seine revolutionäre Arbeiterklasse entweder an den Tod im Bürgerkrieg oder die Deklassierung durch die Wandlung von Arbeitern zu Parteifunktionären. Was übrig blieb war weder eine sozialistische Gesellschaft, noch eine „Diktatur des Proletariats“ – ein Konzept das ursprünglich bei Marx einen konstitutionellen Ausnahmezustand des intensiven Klassenkampfes im Rahmen einer sozialen Republik bezeichnete (ein Fakt der heute in Vergessenheit geraten ist).

Die Ära Stalins in der Sowjetunion brachte eine weltbewegende Industrialisierungskampagne und nach anfänglichen strategischen Fehltritten den Sieg über die Nazis im zweiten Weltkrieg. Dennoch kostete diese Zeit hunderttausenden von Menschen in den großen Säuberungen das Leben, einschließlich dem größeren Teil der Kommunisten, welche die russische Revolution vorangetrieben hatten. Dieses selbstzugefügte Jakarta belastete das Bild und Selbstverständnis der Arbeiterbewegungen im Westen für den Rest des Jahrhunderts – vom sozialdemokratischen Ursprung der kommunistischen Bewegung blieb in der Sowjetunion wenig übrig. Der trotzkistische Ansatz, diese Geschehnisse auf die Person Stalins zu konzentrieren und davon auszugehen, dass ein „Arbeiterstaat“ und die Grundlage des Sozialismus in der Sowjetunion bereits existierten, hatte für viele Sozialisten, die die Entwicklung der Sowjetunion kritisch sahen, wenig Überzeugungskraft. Dass die russische Revolution eine sozialistische Weltrevolution beginnen sollte, aber selbst nicht den Sozialismus erreichen konnte, änderte nichts daran, dass das neu entstandene System qua seines Ursprungs auf eine solche Selbstdarstellung nicht verzichten konnte. Regierungen und Revolutionen in ihrer Einflusssphäre übernahmen diese Selbstdarstellung, und das nicht nur aus ideologischer Überzeugung. Das Bürgertum des Westens wiederum sah in dieser Neudefinition des Sozialismus einen offensichtlichen propagandistischen Wert für die Konterrevolution gegen die Arbeiterbewegungen im eigenen Land. Dass diese Faktoren die „Anti-Autorisierung“ und Ablehnung der Parteistrategie der sozialistischen Bewegung stark motiviert haben steht außer Frage und ist in gewisser Weise verständlich.

Auch wurde die Arbeiterklasse und die sozialistische Bewegung vom Spielfeld der Kulturproduktion praktisch komplett verdrängt, was Autoren wie Mark Fisher und Slavoj Žižek immer wieder in ihren Büchern thematisieren. Dies ist nicht zu unterschätzen, denn Teil der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Entwicklung von Individuen wie auch von Bewegungen ist die allgegenwärtige Sintflut von Medien und Entertainment, die heute unsere Verarbeitung der Welt und Geschichte signifikant regulieren. Guy Fawkes Masken und die Referenzen zu Hunger Games sind von den Protestbewegungen der 2010er nicht wegzudenken, dies wird auch in Bevins’ Werk beschrieben. Viele der Bilder von Revolutionären und Revolutionen, die Menschen der Protestbewegungen im Kopf hatten, sind tatsächlich weniger auf historische Personen und Ereignisse, als auf Punk Rock und Filme wie Matrix und V wie Vendetta zurückzuführen. Doch solche kulturellen Produkte, die unserer neoliberalen Gesellschaft entstammen, kommen natürlich mit ihren antisozialen, antidemokratischen Einstellungen, und die Fähigkeit sich soziale Bewegungen, Klassenkampf und eine Welt oder Zukunft außerhalb des Kapitalismus vorzustellen, wird dem Zuschauer hier gezielt abgewöhnt. Es findet eine Verkleinerung des Horizonts der wahrgenommenen Möglichkeiten der Gesellschaft statt: Eine Revolution ist, wenn es einen „Showdown“ zwischen den Unterdrückern und dem Helden gibt und was danach kommt ist uninteressant, denn sonst müsste man ja eine Gesellschaft außerhalb des Kapitalismus darstellen. Wie Slavoj Žižek einmal über V wie Vendetta witzelte: „Ich würde meine eigene Mutter in die Sklaverei verkaufen, um eine Fortsetzung, V wie Vendetta Zwei, zu sehen, in der es um den Tag nach der Revolution geht.“9 Bevins beschreibt, wie Demonstranten immer wieder von der Fantasie einer finalen Schlacht mit der Polizei ausgehen, an deren Ende – auf unbekannte Weise – die nicht näher erläuterte neue Welt anbricht. Doch in den Fällen, in denen der Staat, dem diese Polizisten dienen, tatsächlich fällt, herrscht große Verwirrung darüber, was man in der Situation tun soll.

Was, wenn wir ein gemeinsames sozialistisches Programm hätten?

Besonders interessant ist mitunter das vorletzte Kapitel von If We Burn. Darin schildert Bevins, was seine Interviewpartner meinen, aus den Ereignissen gelernt zu haben. Wie sich herausstellt, gibt es hier einen klaren roten Faden.

Hossam Bahgat, ein Menschenrechtsaktivist der an den Protesten in Ägypten beteiligt war, sagte im Interview mit Bevins folgendes: “Organisiert euch. Schafft eine organisierte Bewegung. Und habt keine Angst vor Repräsentation […]. Wir dachten Repräsentation sei Elitismus, doch in Wahrheit ist es die Essenz der Demokratie”10. Solche Aussagen hörte Bevins viele: “Ich habe Jahre damit verbracht, Interviews zu machen, und nicht eine Person hat mir gesagt, dass sie mehr horizontalistisch geworden ist oder mehr anarchistisch oder mehr für Spontaneität und Strukturlosigkeit. Manche Leute verblieben dort wo sie vorher waren, doch jeder, der seine Meinung zu Fragen der Organisation geändert hatte, bewegte sich näher zu klassisch leninistischen Ansichten.”11 Immer wieder hörte Bevins, wie Demonstranten sich wünschten, sie wären besser organisiert gewesen, dass sie mehr Geschichte gelesen hätten und mehr „wie die Bolschewiki oder Che Guevarra“ gewesen wären.

Che Guevarra, Lenin und die Bolschewiki sind hier in erster Linie als Repräsentanten der Parteistrategie zu verstehen. Man sollte sich hier nicht zu sehr auf die spezifischen Personen konzentrieren. Tatsächlich ist es eine positive Entwicklung, dass Menschen wieder ein Interesse für die historischen Ereignisse und Figuren der sozialistischen Bewegung entwickeln, für die frühe SPD und die Revolutionen in Russland, Spanien, Kuba, und so weiter – all diese Ereignisse, und sowohl Figuren wie Trotzki als auch Stalin, sind Teil unserer Geschichte als Sozialisten und Revolutionäre, ob wir es wollen oder nicht. Meinungsdifferenzen zu den Personen und Ereignissen sind selbstverständlich, sollten aber nicht von einer differenzierten und materialistischen Analyse der Weltgeschichte ablenken. Zu dem Grad, dass diese geschichtlichen Bewegungen erfolgreich waren radikale Änderungen zu bringen waren sie Verfechter der Parteistrategie, Demokratie und sozialen Opposition der Ausgebeuteten. Zu dem Grad, dass sie scheiterten waren die historischen Bedingungen für eine direkte Repräsentation der Mehrheit der Menschen durch eine revolutionäre Arbeiterpartei nicht gegeben und/oder gab diese ihre oppositionelle und unabhängige Position auf wie es z.B. bei der SPD und der spanischen Revolution der Fall war. Dies ist natürlich eine sehr grobe Vereinfachung der Geschehnisse die nicht überbewertet werden sollten, und doch entsteht hier für viele Linke momentan eine neue Perspektive.

Mehr und mehr Sozialisten kommen zu der Einsicht, dass partizipatorische Demokratie, direkte Repräsentation und programmatische Einheit im Rahmen der Organisation einer oppositionellen Massenpartei der Arbeiter den Kern des Klassenkampfes und der Revolution für den Sozialismus darstellen. In den letzten Jahren hat sich um diese Einsicht eine kleine, aber im englischsprachigen Raum durchaus lebhafte und wachsende Denkrichtung in der marxistischen Linken um Magazine wie Cosmonaut12, The Weekly Worker13, und Prometheus14, sowie akademische Re-evaluationen von Marx und Lenin durch Autoren wie Lars Lih und Bruno Leipold herauskristallisiert. Hierzu zählt auch das bereits erwähnte Buch Revolutionary Strategy. Diese Denkrichtung wird zum Beispiel von der Communist Party of Great Britain und der Marxist Unity Group in den USA politisch vertreten. Für Leser, die mit dieser Denkrichtung noch nicht vertraut sind: Lucien Diehl hat für Licht und Luft einen Text zu Marx‘ Strategie des Minimum-Maximum Programms in Cosmonaut aus dem englischen ins Deutsche übersetzt15.

In Citizen Marx beschreibt Bruno Leipold Marx als einen Denker der republikanischen Tradition im Sinne der französischen Revolution. In diesem Kontext ist die angestrebte Partei nicht einfach eine politische Organisation, deren Funktion sich auf die bloße Teilnahme am Parlamentarismus beschränkt, sondern der Embryo einer zukünftigen sozialen Republik. Betrachtet man die Ausgänge der in If We Burn behandelten Massenproteste, spezifisch derer, bei denen die bestehende Regierung zerschlagen wurde, sehen wir, dass das Machtvakuum zeitnah von regierungswilligen und regierungsfähigen Gruppen aufgefüllt wurde, die stets Vertreter der Reaktion waren. Doch was wäre, wenn nächstes Mal eine sozialistische Massenpartei da wäre und diese die Proteste organisiert hätte? Was, wenn diese Partei bereits bestrebt wäre, einen demokratischen Staat der Arbeitenden zu bilden und bereits ein ausgearbeitetes Programm für eine sozialistische Transformation der Gesellschaft beschlossen hätte? Eine solche Partei würde im Idealfall den Zeitpunkt nutzen, um das Machtvakuum selbst zu füllen und aus Protest Revolution machen, statt darauf zu warten bis liberale, imperialistische und faschistische Kräfte in Aktion treten. Der Fakt, dass Massenproteste innerhalb von wenigen Wochen einen so enormen Druck aufbauen können, dass sie unterdrückerische Systeme zwingen mit ihnen zu verhandeln und sie in manchen Fällen sogar stürzen können, demonstriert den Wert der Taktik des Massenprotest. Doch wir sollten sie nicht als die einzige oder zentrale Taktik sehen – wir haben gesehen wo das hinführt – sondern als das, was sie ist: ein Werkzeug im Klassenkampf. Es geht darum dieses Werkzeug bewusst und kollektiv durch eine gemeinsame Partei zu nutzen, statt es den uns nicht zuträglichen Ebben und Fluten der kapitalistischen Medienwelt preiszugeben.

In einer Massenpartei können wir Proteste demokratisch koordinieren und uns um ein gemeinsam entschiedenes, konkretes Programm für die linke Opposition zur bestehenden Ordnung scharen – es sollte niemals soweit kommen können, dass ein unbekannter in einer Maske aus einem mittelmäßigen liberalen Hollywood Film in irgendeinem YouTube-Video unsere Anliegen bestimmt. Was unsere Anliegen sind, würden wir alle zusammen offen ausdiskutieren und demokratisch bestimmen. Nimmt man als Sozialist das Unterfangen einer partizipatorischen und proletarischen Massenpartei wirklich ernst, so stellt man fest, dass die wirkliche Frage der Revolution nicht darin liegt, ob man Anführer hat oder nicht, oder wie man sozialistische Einstellungen persönlich ausleben kann. Die Frage ist, wie die konkreten organisatorischen Strukturen einer Arbeiterpartei aufgebaut werden müssen, damit die Klasse als Mehrheit der Bevölkerung direkte Repräsentation in ihr erlangen kann und wie ihr Programm für eine sozialistische Transformation der Gesellschaft konkret aussehen sollte.

Antiautoritäre, horizontalistische Sozialisten, die sich davor fürchten, dass die Parteistrategie nur zu unsozialistischen Strukturen führen könne, sind von richtigen Einsichten über den notwendig partizipatorischen Charakter sozialistischer Revolutionen und den historischen Fehlschlägen der Parteistrategie angetrieben. Doch es steht fest, dass unorganisierte, „spontane“, und antipolitische Akte der Rebellion nicht ihr Ziel erreichen, selbst wenn sie so weit kommen die bestehende Ordnung zu stürzen. Diejenigen von uns, die von einer starken Skepsis gegenüber staatlicher, nationaler und bürokratischer Macht geprägt und wie Marx davon überzeugt sind, dass die Freiheit des Einzelnen die Bedingung der Freiheit aller ist – dazu zähle ich mich selbst – sollten sich gemeinsam mit dem Rest der revolutionären Linken mit der Frage beschäftigen, wie man die Prinzipien einer freien Gesellschaft innerhalb einer sozialistischen Massenpartei in embryonaler Form realisieren kann. Wie Mark Fisher es in einer Diskussion mit sozialistischen Studenten auf den Punkt brachte: „Das Problem ist nicht Autorität, sondern wie man Autorität demokratisieren kann“16. Oder wie Bevins es selbst in einem Interview mit dem Law and Political Economy Project beschreibt: „Es gibt immer Anführer, die Frage ist, gibt es einen demokratischen Prozess der sie an die Macht bringt, oder nimmt sie sich jemand einfach“17. Diese Thematik wurde selbst in anarchistischen Kreisen bereits diskutiert, so z.B. in Jo Freemans bekannten Aufsatz Die Tyrannei in strukturlosen Gruppen18.

Die Zeit ist gekommen, um von unseren Fehlern zu lernen

Ob in unserem Land Die Linke das Potential hat, eine solche Massenpartei in Opposition zur Bestehenden Ordnung zu werden, ist zu diesem Zeitpunkt eine sehr wichtige Frage und unklar. Die meisten unserer bisherigen Autoren sind in die Partei eingetreten, um sie mitzugestalten und in eine marxistische Richtung zu bewegen. Unabhängig von der Realisierbarkeit dieses Unterfangens in Bezug auf Die Linke, stellt der kürzliche Erfolg der Partei einen von vielen Indikatoren dar, dass auch in Deutschland mehr und mehr Linke wieder Interesse an der Strategie der Parteiarbeit entwickeln. Einer der Gründe dafür ist zweifellos die wachsende Ernsthaftigkeit unserer Situation: Die steigenden und zunehmend lebensfeindlichen Lebenserhaltungskosten, die Rückkehr faschistischer Gedanken in den politischen Mainstream und der bereits begonnene Kollaps fast aller globaler Ökosysteme.

Nachdem er die Themen Revolution und Arbeiterbewegung Jahrzehnte lang studiert hatte, kam der renommierte Historiker der russischen Revolution E. H. Carr zum dem Schluss, dass der relativ stabile soziale „Frieden“ der Nachkriegszeit im Westen auf einer Art klassenübergreifenden Sozialvertrag basierte, den man so zusammenfassen könnte: Ein privilegierter Teil der Arbeiter der imperialistischen Länder, Teil der enigmatischen „Mittelschicht“, bekam einen tolerierbaren Kapitalismus „mit menschlichen Antlitz“ auf Kosten der Menschen der dritten Welt. Im Gegenzug dafür sollte sozialer Frieden herrschen19. Man lege an dieser Stelle dem Leser Mike Davis‘ Planet der Slums ans Herzen, um zu verstehen, was diese Weltordnung für die Menschen auf der anderen Seite der Erde bedeutet hat. Gleichzeitig verloren die weniger privilegierten Arbeiter des Westens, durch die in den 80er Jahren eskalierende Konterrevolution des Neoliberalismus ihre Möglichkeiten sich zu organisieren, oder überhaupt sichtbar zu werden. Hier sollte man auch die besondere Ausbeutung von migrierten Arbeitern aus dem globalen Süden hervorheben, die einen weiteren Teil der Kosten des relativen Wohlstandes der „Mittelschicht“ tragen müssen. Bevins notiert, dass die meisten Protestbewegungen im Westen seit den 60ern von dieser „Mittelschicht“ und Studenten getrieben wurde. Dies hatte eine katastrophale prägende Wirkung auf die Proteststrategie der 2010er in Ländern auf der anderen Seite der Welt:

„Repertoire und philosophische Ansätze flossen normalerweise vom Norden in den Süden, und nicht in die andere Richtung. Mehrere Leute sagten mir, dass sie glaubten, dass ihre Bewegungen [fast alle hier diskutierten Bewegungen fanden im globalen Süden statt] unbewusst die Positionen angenommen hatten, die in der ersten Welt entwickelt wurden und im Globalen Süden nicht anwendbar sein könnten. Ein ägyptischer Revolutionär beschrieb es mir so: ‚Wenn man in New York oder Paris einen horizontalen, anführerlosen und post-ideologischen Aufstand veranstaltet und dieser geht schief, kriegt man danach einfach eine journalistische oder akademische Karriere. Hier draußen in der echten Welt landen alle deine Freunde im Gefängnis oder sterben, wenn eine Revolution fehlschlägt.‘ Er machte mich auf etwas aufmerksam, dass an ihm, mir, und vielen anderen, die sich die Zeit genommen haben auf die politischen Kämpfe seit den 60ern zurückzublicken, genagt hatte. Ist es vielleicht so, dass viele dieser Ansätze von einer Neuen Linken in Amerika und Westeuropa entwickelt wurde, die es grundsätzlich nicht interessiert hatte ob sie gewinnen würde?“20

Für die herrschenden Klassen wird das unausgesprochene Abkommen mit Engels‘ Arbeiteraristokratie zunehmend ein nicht mehr tragbares Investment, und so kommen wir zu einem Punkt, an dem „links sein“ für niemanden mehr einfach nur ein Ausdruck der persönlichen individuellen Einstellung bleiben kann. Es ist auch in diesem Zusammenhang, dass wir die Aktionen der neuen Trump-Regierung und ihrem von Curtis Yarvin inspirierten DOGE-Department verstehen müssen. Die herrschenden Klassen wollen das Abkommen auflösen und die Arbeiter im eigenen Land so ausbeuten, wie sie es mit denen der dritten Welt tun. Und die Rechte um Trump in Amerika ist Teil eines globalen Netzwerks der Konterrevolution, von dem auch die AfD ein Teil ist. Richard Seymour nennt diese Konterrevolution „Desaster-Nationalismus“ (aus seinem gleichnamigen Buch), da es genau der Kollaps der liberalen Nachkriegsordnung und der Umwelt ist, der sie nährt. Auf der jetzigen Trajektorie des Aufstiegs dieser rechten, proto-faschistischen Kräfte wird es auch hier im Westen immer gefährlicher werden, Teil einer fehlgeschlagenen Revolution zu sein. Und das ist nicht alles.

Im Jahre 2023 haben sogenannte „natural Sinks‘‘, die natürlichen C02 Speicher unserer Erde, netto kein CO2 absorbiert21. Eine Technologie, die dieselbe Aufgabe übernimmt, ist momentan nicht mehr als ein Wunschtraum. Es scheint so, dass wir bereits den Punk erreicht haben an dem – in diesem System – der globalen Erwärmung nichts entgegengesetzt werden kann. Wir steuern mit voller Wucht auf einen globalen ökologischen Kollaps zu. Wir sprechen hier nicht nur von steigenden Wasserspiegeln, sondern davon, dass die Grundlagen des Lebens für einen Großteil der Menschen und Tiere dieses Planeten auf dem Spiel stehen. Als wissenschaftliche Sozialisten müssen wir mit eisernem Blick der Möglichkeit ins Gesicht sehen, dass die materiellen Bedingungen für eine sozialistische Gesellschaft in einem endlichen zeitlichen Rahmen aufhören könnten zu existieren – es gibt keinen Sozialismus inmitten von Massensterben und Hungersnot, ausgelöst von einem globalen Ökozid – egal wie gut unsere Organisationen sind. Palästina zeigt uns heute die Zukunft, die in diesem Szenario auf uns alle wartet – kompletter systemischer und ökologischer Kollaps, maschinell gesteuerte Vernichtung von Menschen am Rande der Zirkulation des Kapitals22, eine Welt der Zäune, Checkpoints und Slums.

Im Angesicht solcher Bedrohungen und den zeitlichen Grenzen unseres Handlungsvermögens, ist die Versuchung groß, explosionsartige Änderungen und Bewegungen zu erträumen: Was, wenn wir morgen alle auf die Straße kommen, was wenn wir morgen alle kämpfen? Diese Ungeduld ist verständlich. Doch wir können uns eben aus diesem Grund nicht mehr viele Fehler leisten. Die weltweiten Proteste gegen Polizeigewalt, gegen den Klimawandel und den Genozid in Gaza, haben letztendlich wenig erreicht. Der Schrecken geht trotzdem weiter. Eine „Revolution“ basierend auf dezentralen, „spontanen“ Protesten wird auch in den 2020ern so schieflaufen wie in den vorherigen Jahrzehnten. Selbst jetzt noch ist die Idee des Massenprotest als Revolution zu weit verbreitet in der weltweiten Linken. Selbst Kohei Saito’s überwiegend hervorragende Reihe zum Marxistischen Ökosozialismus, Natur gegen Kapital und Systemsturz, endet mit einem lahmen Aufruf auf die Straßen zu gehen. Wie viele fehlgeschlagen revolutionäre Perioden wir noch durchlaufen können bis es zu spät ist, ist unklar, doch viel Zeit bleibt uns nicht. Es ist Zeit, eine Bilanz aus der mehr als 200 Jahre langen Geschichte der sozialistischen Bewegung zu ziehen und zu sagen: ohne eine Partei, ohne ein gemeinsames Programm, ohne Demokratie sind wir nichts, und werden brennen.

  1. Mike Macnair, Revolutionary Strategy: Marxism and the challenge of left unity. Interessierten Lesern empfehlen wir die kostenlose Hörbuchversion von Cosmonaut Magazine: https://cosmonautmag.com/2021/09/audio-book-of-mike-macnairs-revolutionary-strategy/. ↩︎
  2. Vincent Bevins, If We Burn: The Mass Protest Decade and the Missing Revolution, Seite 4. Alle Zitate aus diesem Werk wurden in diesem Artikel von mir selbst übersetzt. ↩︎
  3. Ibid, Seite 5. ↩︎
  4. The Chris Hedges Report, ‚If We Burn‘: The limits of mass protest with Vincent Bevins, https://www.youtube.com/watch?v=JothTrXIzRs, Übersetzung meine eigene. ↩︎
  5. Vincent Bevins, If We Burn: The Mass Protest Decade and the Missing Revolution, Seite 181. ↩︎
  6. Ibid, Seite 360. ↩︎
  7. Jamie Allinson, SALVAGE Magazine, The Actuality of Counter-Revolution, https://salvage.zone/the-actuality-of-counter-revolution. ↩︎
  8. Der Begriff “Plebejer” beschrieb ursprünglich die Menge der nicht-adligen Bürger der römischen Republik. Diese beinhaltete das Proletariat, aber auch Bauern, Handwerker usw. Der Gebrauch des Wortes im modernen und insbesondere im marxistischen Denken beschreibt ebenso die Pluralität der nicht-herrschenden oder unterdrückten Klassen. In der russischen Revolution waren diese in erster Linie die Arbeiter und die zahlenmäßig überlegenen Kleinbauern. Die widersprüchlichen Klasseninteressen der plebejischen Massen spiegelten sich auch im Verlauf der Revolution wider. Das Verständnis der Russischen Revolution als plebejische Revolution findet sich auch bei bekannten Historikern der Sowjetunion, wie z.B. Isaac Deutscher, E. H. Carr, Moshe Lewin, und J. Arch Getty. ↩︎
  9. Slavoj Žižek, Big Think, Why There Are No Viable Political Alternatives to Unbridled Capitalism, https://www.youtube.com/watch?v=U7JgfB8PaAk, Übersetzung meine eigene. ↩︎
  10. Vincent Bevins, If We Burn: The Mass Protest Decade and the Missing Revolution, Seite 333. ↩︎
  11. Ibid, Seite 335. ↩︎
  12. Cosmonaut Magazine, https://cosmonautmag.com/. ↩︎
  13. The Weekly Worker, https://weeklyworker.co.uk/. ↩︎
  14. Prometheus Journal, https://prometheusjournal.org/. ↩︎
  15. Lucien Diehl, Licht und Luft, Das revolutionäre Minimum-Maximum-Programm, https://lichtundluft.org/2024/12/15/das-revolutionaere-minimum-maximum-programm/. ↩︎
  16. Mark Fisher, AntiCapitalism 2011 Workers‘ Power Veranstaltung, https://www.youtube.com/watch?v=PwYv9La0fjE, Übersetzung meine eigene. ↩︎
  17. The Law and Political Economy Project, If We Burn with Vincent Bevins, https://www.youtube.com/watch?v=DJrleT-4oj8_, Übersetzung meine eigene. ↩︎
  18. Jo Freeman, Die Tyrannei in strukturlosen Gruppen, https://archive.org/details/de-die-tyrannei-in-strukturlosen-gruppen-jo-freeman/de/_Die%20Tyrannei%20in%20strukturlosen%20Gruppen%20-%20Jo%20Freeman-conv/. ↩︎
  19. E.H. Carr, New Left Review, The Russian Revolution and the West, https://newleftreview.org/issues/i111/articles/e-h-carr-the-russian-revolution-and-the-west.pdf. ↩︎
  20. Vincent Bevins, If We Burn: The Mass Protest Decade and the Missing Revolution, Seite 340, meine Betonung. ↩︎
  21. Patrick Greenfield, The Guardian, Trees and land absorbed almost no CO2 last year. Is nature’s carbon sink failing?, https://www.theguardian.com/environment/2024/oct/14/nature-carbon-sink-collapse-global-heating-models-emissions-targets-evidence-aoe. ↩︎
  22. Yuval Abraham, +972 Magazine, ‘Lavender’: The AI machine directing Israel’s bombing spree in Gaza, https://www.972mag.com/lavender-ai-israeli-army-gaza/. ↩︎