Ausgehend von einer Analyse der politischen Lage in Frankreich formuliert Lucien Diehl einige Überlegungen für eine oppositionelle Klassenpolitik und wirft die Frage nach dem Verhältnis von Kommunist:innen zum bürgerlichen Staat und Regierungsbeteiligung auf.
Die Ereignisse in Frankreich seit den Parlamentswahlen und der Gründung der „Neuen Volksfront“ im Sommer 2024 haben für die dortige Linke einige strategische Fragen aufgeworfen, die sich in Deutschland ähnlich stellen oder stellen sollten. Trotz wesentlicher Unterschiede zwischen den politischen Kontexten in Deutschland und Frankreich sind die Tendenzen, die den politischen Entwicklungen und sozialen Kämpfen in beiden Ländern zugrunde liegen, unverkennbar: eine radikalisierte Bourgeoisie, die fest entschlossen ist, die verbleibenden sozialen Errungenschaften der Lohnabhängigen zu beseitigen, eine seit Jahren erstarkende rechtsextremistische Partei, und eine wachsende Bereitschaft des konservativen und liberalen Lagers, deren rechte Politik angesichts der sich vertiefenden Krisen selbst umzusetzen oder mit ihr zu arbeiten. Ein Blick nach Frankreich lohnt sich auch deshalb, weil es möglicherweise ein Blick in unsere Zukunft ist. Hier zeigt sich eine verschärfte Version der deutschen Verhältnisse und damit der Situation, mit der die Linke hierzulande konfrontiert sein wird bzw. in Ansätzen bereits konfrontiert ist.
Was in den letzten Monaten in Frankreich zu beobachten war, ist das Ergebnis eines jahrelangen Prozesses der Herausbildung und Konsolidierung von drei parlamentarischen Blöcken — der Neuen Volksfront, des macronistischen „Zentrums“ als stärkste und regierende Kraft sowie der extremen Rechten —, der mit dem Wahlsieg Macrons 2017 und dem Zerfall der beiden „Volksparteien“ und damit des Mitte-Links-Mitte-Rechts-Paradigmas eingeleitet wurde. Um Macrons Regierungsblock, der sich anfangs als eine Art bonapartistische Rettung Frankreichs vor den vermeintlichen Qualen des Links-Rechts-Paradigmas durch die proklamierte nationale Einheit um einen starken Mann stilisierte, lieferten sich die Linke (vor allem in Gestalt von Jean-Luc Mélenchon und seiner Partei La France Insoumise — LFI) und der rechtsextreme Rassemblement National (RN) einen Wettlauf. Die Entstehung eines starken Zentrums um Macron hat sowohl die linksliberale Parti Socialiste (PS) als auch die konservative Les Républicains (LR) zerstört, indem sie die zentristischsten und opportunistischsten Elemente beider Seiten anzog. Die radikaleren Alternativen — links wie rechts — konnten dieses Vakuum nutzen und sich weiter etablieren. Jean-Luc Mélenchon und die LFI erwiesen sich als die treibende Kraft der Linken und wurden zu einem unumgänglichen Partner für die anderen Parteien der parlamentarischen und reformistischen Linken: die Sozialistische Partei, die Grünen (EELV) und die Französische Kommunistische Partei (PCF). Als tonangebende Kraft gelang es ihr, die PCF und Teile der PS und der EELV nach links zu ziehen.
Dies führte zur Bildung von Bündnissen zwischen diesen Parteien, um sich in dieser Neuordnung der politischen Landschaft und der Kräfteverhältnisse als linke parlamentarische Kraft zu behaupten oder zumindest relevant zu bleiben. So entstand im Juni 2024 nach dem Sieg der RN bei den Europawahlen in Frankreich und der darauffolgenden Auflösung des Parlaments durch Macron ein linkes Bündnis aus der Notwendigkeit heraus, die Kräfte zu bündeln und einen Sieg der extremen Rechten bei den nächsten Parlamentswahlen zu verhindern. In kürzester Zeit gründeten die Parteien die Neue Volksfront (NFP) und formulierten ein Programm, das versprach, „das Leben zu verändern.“1 Programm und Ziel des Bündnisses waren klar: antifaschistische Politik durch Sozialpolitik und dafür einen Bruch mit dem bisherigen neoliberalen Status quo, ähnlich dem, was hierzulande als „antifaschistische Wirtschaftspolitik“ bezeichnet wird. Symbolisch lehnte sich das Bündnis an die historische Volksfrontregierung von 1936 an, die bis 1938 regierte und durch die Massenstreikbewegung im Frühjahr 1936 zahlreiche tiefgreifende Reformen durchsetzen konnte. Trotz der offensichtlichen Grenzen, die sich aus dem reformistischen und staatszentrierten Politikverständnis aller an der NFP beteiligten Parteien ergaben, sind positive oder zumindest relevante Aspekte hervorzuheben. Erstens waren die programmatische Grundlage und ihre Klarheit zentral für das Bündnis: Das in aller Eile formulierte Programm versprach für den Rahmen parlamentarischer Politik recht grundlegende Veränderungen durch einen Bruch mit dem Neoliberalismus Macrons und seiner Vorgänger.2 Mit diesem Versprechen eines radikalen Bruchs wurde eine klare Trennlinie zwischen der Linken und dem Rest des politischen Spektrums gezogen, wenn auch nur vorübergehend. Konkret bedeutete dieser Bruch die Abschaffung der umstrittenen Rentenreform und mehrerer Reformen der Arbeitslosenversicherung der Regierung Macron, das Einfrieren der Preise für Grundnahrungsmittel, Energie und Treibstoff sowie die Anhebung des Mindestlohns auf 1600 Euro (von derzeit 1426 Euro) und die Anpassung der Löhne an die Inflationsrate. Darüber hinaus sollen die öffentlichen Dienstleistungen wieder ausgebaut und eine „ökologische Planung“ entwickelt werden. Auf staatlich-institutioneller Ebene soll der Weg zu einer neuen Republik durch die Einführung des Verhältniswahlrechts, die Abschaffung des Artikels 49.3 (der es der Regierung erlaubt, das Parlament zu umgehen) und die Stärkung des Parlaments geebnet werden. Diese neue Republik soll durch die Einberufung einer gewählten verfassungsgebenden Bürgerversammlung erfolgen.
Neben dem Inhalt des Programms war seine Form für die Mobilisierungsdynamik wichtig und aus strategischer Sicht ein weiterer relevanter Punkt. Das Programm wurde in mehrere Zeitabschnitte gegliedert: die ersten 15 Tage (unter dem Titel „Der Bruch“), die ersten 100 Tage („Der Sommer der Wende“), die folgenden Monate („Die Transformation“). Positiv hervorzuheben ist, dass nicht nur eine klare Richtung, sondern auch Prioritäten und damit konkrete Schritte aufgezeigt wurden, die eine NFP-Regierung unternehmen würde. Die NFP ist also mit einem relativ detaillierten Bild der Gesellschaft, die sie aufbauen will, in den Wahlkampf gegangen, d.h. nicht nur mit der Ablehnung der rechtsextremen Politik und der Politik Macrons, sondern auch mit positiven Inhalten. Das hat viele, vor allem junge Menschen mobilisiert und ihnen wieder eine Perspektive und Alternative zur Dauerkrise und der zynischen Politik Macrons gegeben. Neben der antifaschistischen Dimension war dies zentral für die breite Mobilisierung für die NFP vor den Parlamentswahlen. Es ging also — anders als bei den meisten Anti-AfD-Demonstrationen in Deutschland im Frühjahr 2024 und heute — nicht nur um den Kampf gegen das größere Übel, sondern zugleich gegen den jahrelangen liberalen Status quo und den ultraliberalen und autoritären Kurs der aktuellen Regierung. Statt wie in Deutschland diesen Status quo zu stärken, richtete sich die antifaschistische Mobilisierung in Frankreich gegen ihn. Dass große Teile des Bündnisses diesen Bruch natürlich nie ernst gemeint haben und sich opportunistisch in dieses Bündnis begeben haben, bedeutet nicht, dass ihre Basis und die Straße nicht ernsthaft mit dem Ganzen brechen wollten.
Nach dem überraschenden Wahlsieg der NFP im Juli 2024 zögerte Macron jedoch, den:die neue:n Premierminister:in zu ernennen, der oder die traditionell aus dem Lager der Wahlsieger kommt. Macron bildete eine deutlich rechtskonservativ geprägte Regierung, die vor allem einen Sparkurs einleiten sollte. Die Regierung wurde Anfang Dezember durch ein Misstrauensvotum der Linken Parteien mit Unterstützung der rechten RN gestürzt. Seit Ende Dezember gibt es eine neue Regierung mit einem bürgerlichen, macronistischen Premierminister und genauso rechtskonservativen Minister:innen. Mitte Januar versuchten LFI, PCF und Grüne erneut, die Regierung durch ein Misstrauensvotum zu stürzen. Ohne die Unterstützung der PS, die damit zumindest teilweise mit der NFP brach, und der rechten RN blieb dies jedoch vorerst erfolglos. Die Parti Socialiste zeigt damit, dass sie trotz des sozialeren Anstrichs durch ihre Beteiligung an der NFP doch eine „verantwortungsbewusste“ Partei ist, die nach großen Ankündigungen eines neuen, sozialeren Kurses lieber den Status quo beibehält als eine Vertiefung der Regierungskrise zu „riskieren“. Die Unterstützung des Haushalts der neuen Regierung Anfang Februar bestätigte diesen staatstragenden Kurs. Ungeachtet der Gewissensbisse linksliberaler Politiker:innen bleibt die aktuelle Regierung jedoch weiterhin zerbrechlich. Die fortbestehende Möglichkeit eines Misstrauensvotums ist eine Folge der eingangs beschriebenen Neuordnung der parlamentarischen Landschaft. Es ist davon auszugehen, dass diese institutionelle Instabilität anhalten wird. In Frankreich wird dies vor allem als ein endgültiges Zeichen für die Schwächen und Grenzen der Fünften Republik interpretiert, was die Rufe nach einer neuen, also Sechsten Republik lauter werden lässt. Was bisher nur aus einem Teil der Linken zu hören war, erscheint vielen immer mehr als ein möglicher, wenn nicht sogar der einzig realistische Ausweg aus der parlamentarischen Krise.3
Soziale und politische Dynamiken der letzten Jahre
Der Zusammenbruch der traditionellen linksliberalen und konservativen Parteien hat, wie bereits erwähnt, zu einer Polarisierung der politischen Landschaft geführt und Raum für radikalere Positionen geschaffen. Hinzu kommt die ultraliberale Politik Macrons, die die ohnehin angespannte soziale Lage weiter verschärft. Bereits 2016 kam es zu massiven Streiks und Protesten gegen die von der PS unter Präsident François Hollande eingeführte Arbeitsmarktreform. Die Bewegung gegen diese Reform wird oft als Moment der Politisierung einer neuen linken Generation und als Ausgangspunkt eines sozialen und politischen Kampfzyklus gesehen, der bis heute nicht abgeschlossen ist. Dieser Moment war geprägt von einer neuen, verstärkten Konfliktbereitschaft der radikalen Linken, symbolisiert durch die Entstehung eines besonders offensiven Schwarzen Blocks, der von nun an jede Großdemonstration in Paris eröffnete, indem er sich vor die offizielle Demonstration der Gewerkschaften und Parteien stellte und dabei häufig in direkte Konfrontation mit der Polizei geriet. Macrons kompromissloser und angekündigter Plan zur Zerstörung der Reste des französischen Sozialstaats, verbunden mit Austeritätspolitik und stagnierenden Einkommen, löste in diesem Zusammenhang heftige soziale Auseinandersetzungen aus, allen voran die Bewegung der Gelbwesten 2018-2019, die Proteste gegen einen ersten Anlauf zur Einführung der Renten-„Reform“ Ende 2019 sowie die Streikwelle und die Massenproteste gegen diese gleiche „Reform“ im Frühjahr 2023. Hinzu kommt eine wachsende Auseinandersetzung um Polizeigewalt nach besonders brutalen Polizeieinsätzen gegen Demonstrant:innen und mehreren Polizeimorden. Ende 2020 kam es zu militanten Protesten gegen Polizeigewalt und ein autoritäres Überwachungsgesetz. Auf die Bewegung gegen die Renten-„Reform“ im Frühjahr 2023 folgten massive Aufstände von (meist) Jugendlichen in proletarischen Stadtteilen und Vorstädten im ganzen Land.4 Die Frage der Polizeigewalt kristallisierte und verschärfte den anhaltenden sozialen Konflikt. All diese Kämpfe bilden den sozialen Hintergrund der Neuen Volksfront vom Sommer 2024 und haben die programmatische Einheit der parlamentarischen Linken sowie die Massenmobilisierungen der Basis im Wahlkampf erst möglich gemacht.
Die revolutionäre Linke gegenüber der NFP und der allgemeinen LAGE
Die radikale oder revolutionäre Linke in Frankreich lässt sich grob in zwei großen Lager einteilen:5 einerseits trotzkistische und „post-trotzkistische“ Organisationen wie Lutte Ouvrière, Révolution Permanente (die Schwesterorganisation von Klasse gegen Klasse), die NPA l’Anticapitaliste und NPA Révolutionnaire,6 andererseits die autonome Linke, die sich vor allem aus lokalen Antifa-Gruppen, radikalen Umweltgruppen und antiautoritären Zusammenhängen und Einzelpersonen zusammensetzt.
Die (post-)trotzkistischen Organisationen lehnten die NFP kategorisch ab, mit Ausnahme der eher allgemein marxistisch als rein trotzkistisch orientierten NPA l’Anticapitaliste, die der LFI relativ nahe steht und einige Kandidat:innen für die NFP stellte. Sie kritisierten zu Recht die Zusammenarbeit mit der PS, die in den letzten Jahrzehnten maßgeblich zum neoliberalen Umbau der französischen Wirtschaft und Gesellschaft beigetragen hat. Darüber hinaus gab es eine grundsätzliche Kritik an breiten reformistischen Bündnissen, die nie ernsthaft den Kampf gegen die bürgerliche Herrschaft aufnehmen und jeden Protest in die parlamentarischen Schranken weisen würden. Aus diesem Grund stellten Organisationen wie Révolution Permanente, Lutte Ouvrière und die NPA Révolutionnaire ihre eigenen Kandidat:innen auf und betrieben mehr oder weniger offen Wahlkampf gegen die Kandidat:innen der NFP, obwohl der Kampf gegen die Kandidat:innen des RN als Priorität angesehen wurde. So richtig die Analysen und Kritiken dieser Organisationen waren, so isolierten sie sich mit ihrer Fundamentalkritik, die meist ohne wirkliche Vermittlung erfolgte, von der großen Mehrheit der Lohnabhängigen und ihrer Organisationen, die zur Unterstützung der NFP aufriefen. Allzu oft wurden immer wieder ähnliche Floskeln geäußert, wie „die Arbeiter:innen können nur auf ihre eigenen Kräfte zählen“ oder „es braucht eine revolutionäre Partei.“ Im Prinzip ist alles richtig. Aber konkrete strategische und taktische Vorschläge für die gegebene Situation oder eine detailliertere Kritik der Volksfronttaktik waren in den meisten veröffentlichten Analysen dieser Organisationen im Sommer 2024 kaum zu finden. Darüber hinaus scheinen solche Ansätze oft auf einer Überschätzung der Kämpfe und der oppositionellen Haltung der Lohnabhängigen zu beruhen: Glaubt man ihnen, so steht die Klasse schon die ganze Zeit kurz vor dem revolutionären Aufstand.
Die autonome Linke hingegen verfolgte einen nahezu gegensätzlichen Ansatz. Im Gegensatz zu Deutschland hat die autonome Bewegung in Frankreich in den letzten zehn Jahren einen Aufschwung erlebt. Sie ist auch weniger isoliert von den allgemeinen sozialen Bewegungen und der reformistischen und parlamentarischen Linken als in Deutschland. Sowohl der Aufschwung als auch die Nähe zur übrigen Linken sind möglicherweise auf die erwähnten sozialen Kämpfe der letzten Jahre zurückzuführen. In der Tat sind diese großen Mobilisierungsmomente, wie sie in Frankreich regelmäßig stattgefunden haben, Momente, die zu einer aktiven Zusammenarbeit und Auseinandersetzung mit der breiteren Bewegung drängen und so eine gewisse Aktionseinheit fördern, wenn auch nur vorübergehend. Denn diese sozialen und politischen Aufschwünge sind Momente, die die Aufmerksamkeit monopolisieren, ein gemeinsames Thema und einen gemeinsamen politischen Raum schaffen. Der soziale Kampfzyklus des letzten Jahrzehnts hat den autonomen Strömungen und den spontaneistischen und insurektionnellen Theorien und Ansätzen neuen Auftrieb gegeben. Wie in Deutschland scheint es jedoch keine eigene Strategie für die institutionelle und parlamentarische Politik zu geben. Die Radikalität auf der Straße wird also von einer reformistischen Haltung im parlamentarischen Bereich begleitet. Die politische Abstinenz dieser Strömungen führt in vielen der oben genannten sozialen und politischen Aufbrüche zu einer Annäherung an den linken Flügel der reformistischen Linken und in diesem Fall an das NFP-Bündnis. Dies zeigt, dass diese Strömungen nicht in der Lage sind, eine politische Alternative anzubieten. Sie waren, manchmal sogar in ihren eigenen Worten, die „Fußtruppen“ des Bündnisses auf der Straße.
Diese Situation illustriert besonders gut ein zentrales Problem, mit dem wir konfrontiert sind: die Anziehungskraft des Reformismus. Wir werden sie nicht einfach durch revolutionäre Parolen oder ein besonders radikales Auftreten auf der Straße beseitigen können, obwohl weder das eine noch das andere falsch ist. Aber um eine Antwort auf die großen Fragen der Zeit und auf das Problem der Anziehungskraft des Reformismus zu finden, braucht es mehr: Die revolutionäre Bewegung muss in der Lage sein, eine glaubwürdige und zugleich revolutionäre Perspektive zu formulieren.
Die reformistische Linke und wir
Bei der Frage der Glaubwürdigkeit und Anziehungskraft des reformistischen Projekts der NFP spielte die Oppositionshaltung eine zentrale Rolle. Die LFI leistete diesbezüglich wichtige Vorarbeit in den letzten Jahren, die es der NFP ermöglichte, sowohl proletarische und migrantische Vorstadtbewohner:innen wie große Teile der gesellschaftlichen Linken zu mobilisieren. Über die NFP hinaus konnte sich die LFI damit langfristig eine Führungsrolle innerhalb der Linken sichern und damit weite Teile der französischen (radikalen) Linken zumindest parlaments- und wahlpolitisch an sich binden. Dies gelang ihr durch eine konsequente oppositionelle, soziale und antirassistische Haltung und Politik, die, wie Jean-Luc Mélenchon selbst, die Konfrontation nicht scheut. Diese Kampfbereitschaft, trotz ständiger Verleumdungen und der allgemeinen reaktionären Stimmung im Land, ist der Grund für die Glaubwürdigkeit der LFI bei einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung. So hat die LFI innerhalb der reformistischen Linken eine radikalisierende Rolle gespielt und andere Parteien der NFP durchaus nach links gezogen.
Jedoch ist das große, vordergründige Ziel der LFI , Jean-Luc Mélenchon zum Präsidenten zu machen, um mit der Übernahme der Regierungsmacht endlich eine „wirklich soziale“ Politik zu machen und damit vermeintlich alle Probleme zu lösen, z.B. durch die Ablösung der Fünften Republik durch die Sechste Republik, die die Grundlage für soziale und demokratische Reformen bilden soll. Mit einem solchen Ansatz, der auf der Vorstellung kurzfristiger und (relativ) leicht erreichbarer Veränderungen beruht, gelingt es der LFI, wie auch viele Reformist:innen in anderen Ländern, immer wieder, große Hoffnungen in weiten Teilen der Linken zu wecken. Revolutionäre Kritik und Perspektiven erscheinen den meisten dagegen als zu abstrakt und illusorisch, vor allem in Zeiten großer Mobilisierungen und vor allem, wenn diese mit Wahlen verbunden sind. Dabei ist es gerade die reformistische und regierungsorientierte Strategie, die alle paar Jahre an den gleichen Problemen scheitert und sich immer wieder als unrealistisch erweist, wie die Entwicklungen der letzten Jahre in Chile wieder eindrucksvoll gezeigt haben.7 Trotz ihrer absehbaren Grenzen und ihres ziemlich sicheren Scheiterns erlangen solche regierungsorientierten Ansätze immer wieder eine hegemoniale Stellung in sozialen Bewegungen und marginalisieren revolutionäre Perspektiven, indem bisher in der Linken weitgehend geteilte Analysen und Positionen plötzlich als maximalistisch und realitätsfern abgetan werden. Die Schwäche und Desorganisation der revolutionären Linken und der Klassenbewegungen insgesamt sowie die zumeist geringe Intensität der Klassenauseinandersetzungen tragen dazu bei.
Die Perspektive dieser staatszentrierten Ansätze, insbesondere der LFI, beruht auf der Illusion, dass man mit einer Regierung im Rahmen der gegenwärtigen bürgerlichen Demokratie durch die richtigen Reformen die Dinge grundlegend verändern kann, wenn man nur den Mut dazu hat. Im Grunde geht es um die Suspendierung des Klassenkampfes zugunsten der Durchführung gesellschaftlicher Veränderungen von oben nach unten, durch eine Regierung und den Staat selbst. Oder wie es Mélenchon bei den Präsidentschaftswahlen 2022 anschaulich formulierte, ersparen wir uns viele Demonstrationskilometer, wenn wir ihn wählen. Diese Regierungsorientierung ist im Falle von der LFI auch eine nationalstaatliche Illusion: Jahrzehnte kapitalistischer Konterrevolution in Form neoliberaler „Reformen“ sollen durch die Wahl einer linken Partei mit Mut und Reformwillen umgekehrt werden. Die internationale Dimension dieser neoliberalen Entwicklung und die totale Integration der nationalen Ökonomien in den kapitalistischen Weltmarkt werden insgesamt im Namen einer viel beschworenen, aber nicht weniger illusorischen nationalen Souveränität ignoriert. Auch die Volksfrontregierung von 1936 scheiterte unter anderem an solchen internationalen wirtschaftlichen Zwängen. Die Lösung fußt in dieser Vision also auf dem Mut vor allem einzelner Politiker:innen, die die Reformen (für uns) durchführen sollen. Ausgeblendet wird dabei die Quelle der Macht und ihrer Verteilung im kapitalistischen System: die kapitalistische Produktionsweise selbst und die daraus resultierenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Ausgeblendet wird dementsprechend auch die daraus resultierende Notwendigkeit, eben diese Produktionsweise und den Konflikt zwischen Arbeit und Kapital als unauflösbaren Antagonismus zu thematisieren und zur Grundlage des politischen Kampfes zu machen. Aber genau dieses Problem macht das reformistische Projekt der NFP (oder anderer regierungsorientierter Linker) unrealisierbar. Wahlmehrheiten reichen nicht aus, um diesen Aspekt der kapitalistischen Herrschaft zu verändern, schon gar nicht, wenn sie mit linksliberalen Kräften errungen werden. Selbst wenn die LFI dies ernsthaft anstrebte, könnte sie mit der NFP-Allianz keinen wirklichen Bruch mit den bestehenden Verhältnissen durchführen, und schon gar keinen kommunistischen. Selbst eine NFP-Regierung mit einer LFI-Mehrheit würde der Klassenbewegung nicht nützen: Sie würde, konfrontiert mit den Realitäten der Leitung eines kapitalistischen Staates, zu massiver Enttäuschung in den sozialen Bewegungen und zu einer Entfremdung ihrer sozialen Basis führen. Darüber hinaus ist zu erwarten, dass eine solche Regierung keine andere Wahl haben wird, als das kapitalistische Tagesgeschäft fortzusetzen und damit die bestehende und daraus resultierende Faschisierung weiter Teile der Bevölkerung voranzutreiben und die sozialen Bewegungen, die sich dann noch deutlicher mit der Regierungsmacht identifizieren würden, zu isolieren. Denn trotz ihrer großen Anziehungskraft bei Wahlen fehlt der LFI als Wahlverein die reale Verankerung in der Klasse der Lohnabhängigen und ihren Organisationen und damit die materielle Macht, die nötig wäre, um reale, grundlegende Veränderungen zu erkämpfen. Und wie die anderen Parteien der NFP sehen sie darin auch kein Problem, weil für sie Veränderung im Wesentlichen über die staatlichen Institutionen und die Vermittlung zwischen den verschiedenen Akteuren der sozialen Kämpfe erfolgt, nicht über den sozialen und politischen Kampf selbst.8 Die LFI und die anderen NFP-Parteien eint letztlich die Vorstellung, dass die Wahl dieser Parteien ausreicht, um mit den bestehenden Verhältnissen zu brechen und der Rechten Einhalt zu gebieten. Im besten Fall wird zugegeben, dass es dazu auch die Mobilisierung der Straße und außerparlamentarischer Intitiativen und Organisationen bedarf. Dabei wird einmal mehr übersehen, dass die NFP nicht parallel zu diesen Mobilisierungen entstanden ist, sondern Ergebnis der zahlreichen sozialen Bewegungen der letzten Jahre ist und nur aus ihnen heraus reale politische Macht über Wahlzyklen hinaus entfalten kann.9 Aber auch den sozialen Bewegungen selbst fehlte oft die materielle Macht, um zu einer wirklichen Herausforderung der kapitalistischen Ordnung zu werden, da diese sich in den meisten Fällen nicht als Lohnabhängige organisierten. Dies ist jedoch notwendig, um eine Bewegung aufzubauen, die aufgrund ihrer Beziehung zu den Produktionsmitteln dazu in der Lage ist, mit den bestehenden Verhältnissen zu brechen und die Faschisierung langfristig und grundsätzlich zu bekämpfen, ohne auf strategische Bündnisse mit liberalen Kräften und dem Staat angewiesen zu sein.
Vorläufige abschließende Überlegungen
Die historischen Beispiele der Volksfrontstrategie in den 1930er Jahren oder das jüngere (und deutlich weniger linke) Beispiel der NFP haben eindrucksvoll gezeigt, dass revolutionäre Kräfte in solchen Bündnissen zu Befürwortern eines reformistischen oder sogar offen staatstragenden Projekts werden. Darüber hinaus tendieren die rechten Flügel solcher Volksfrontbündnisse dazu, irgendwann stärker zu werden, weil sie oft am ehesten in der Lage sind, eine schnelle Antwort auf das Problem zu geben: eine Koalition mit liberalen und sogar konservativen Kräften, um die extreme Rechte fernzuhalten. Aus dem gleichen Grund neigt der rechte Flügel oft dazu, die Einheit des Bündnisses zugunsten einer Zusammenarbeit mit den Liberalen und Konservativen zu zerstören. Der wiederholte Verrat der linksliberalen PS in Frankreich in den letzten Monaten ist ein gutes Beispiel dafür: Der milde Oppositionskurs der NFP wurde von der PS verraten, sobald sie merkte, dass sie in der Position war die Regierung zur Zusammenarbeit zu zwingen. Das liegt nicht am Willen oder Charakter der Parteiführungen, sondern am Wesen der Volksfront selbst. Ziel der historischen und aktuellen Volksfrontpolitik ist es, den Status quo der bürgerlichen Demokratien gegen die als extern wahrgenommene faschistische oder allgemein „antidemokratische“ Bedrohung zu verteidigen.10 Dabei werden die revolutionären Elemente innerhalb einer solchen Front zwangsläufig zu staatsloyalen Kräften, was zu einer widersprüchlichen Praxis für diese führt. Denn der Faschismus ist keine äußere Bedrohung der bürgerlichen Gesellschaft, sondern ein Produkt derselben. Die „demokratische“ Spielart der bürgerlichen Ordnung trägt immer eine reaktionäre Seite in sich, die ihre materielle Grundlage in der notwendig autoritären Seite der Klassengesellschaft, dem Regime der Arbeit, hat.11 Diese Demokratie zu verteidigen bedeutet, sowohl die liberale als auch die autoritäre Seite dieser Ordnung zu verteidigen. Als Kommunist:innen sollten wir dementsprechend dem liberalen „Kampf für die Demokratie“ einen revolutionären und proletarischen Antifaschismus entgegensetzen, der sich gegen beide Seiten der bürgerlichen Ordnung wendet. Das bedeutet, den antifaschistischen Kampf unabhängig von staatlichen oder staatstragenden Akteuren zu führen, indem wir am Aufbau einer unabhängigen politischen Kraft arbeiten, die als Opposition sowohl zum autoritären und undemokratischen Charakter der bürgerlichen Ordnung als auch zum Arbeitsregime selbst und damit zur demokratisch-kapitalistischen Normalität fungiert. Das heißt nicht, dass wir nie Bündnisse mit Reformist:innen und Linksliberalen im Kampf gegen Rechtsextremismus eingehen sollten, sondern dass wir in solchen Bündnissen immer versuchen müssen, eine eigenständige Position zu bewahren. Es liegt an uns in solchen Bündnissen durch unsere Analysen und unsere Kritik die Zusammenhänge zwischen bürgerlicher Ordnung und Faschisierung aufzuzeigen, den Klassenantagonismus in den Mittelpunkt zu stellen und damit die Illusionen des linksliberalen Anti-Rechts-Aktivismus zu entlarven.
Es gibt jedoch einen Punkt im Programm der NFP, der über den Kampf gegen die autoritärste Erscheinungsform der bürgerlichen Ordnung — den Faschismus — hinausgeht und die herrschende politische Ordnung als solche angreift: die Forderung nach einer neuen, demokratischeren Republik. Diese Republik, die durch eine gewählte verfassungsgebende Versammlung eingeleitet werden soll, zielt vor allem auf ein starkes Parlament (im Gegensatz zur gegenwärtigen Schwäche gegenüber dem Präsidenten und der Exekutive), auf eine stärkere Beteiligung der Bürger:innen und auf eine Beschränkung der Macht der Exekutive. Diese Forderung hat einen sozialen und somit realen Inhalt, indem sie an die Kämpfe und Forderungen der sozialen Bewegungen der letzten Jahre anknüpft, wie unter anderem die massive Mobilisierung gegen die Anwendung des Artikels 49.3, um die Renten-„Reform“ durchzusetzen. Der grassierende Autoritarismus Macrons und seiner Regierung ist Ergebnis der autoritär ausgerichteten Fünften Republik und beide sind regelmäßig Auslöser wie Zielscheibe sozialer und politischer Bewegungen. Insofern ist die Forderung nach einer neuen Republik im Programm der NFP Ausdruck dieser Kämpfe und damit strategisch richtig. Aber auch hier ist die Grenze dieser Forderung ihr verfassungsrechtlicher und parlamentarischer Rahmen. Im Falle einer Umsetzung durch die NFP und eine gewählte verfassungsgebende Versammlung wird eine neue Republik geschaffen, die weder die Eigentumsfrage noch das damit verbundene Arbeitsregime in Frage stellt und damit die Grundfesten des bürgerlichen Staates nicht antastet. Denn die NFP spricht sich mit ihrem institutionellen Ansatz und ihrem gesamten Politikverständnis nicht nur ausdrücklich für eine staatliche Mitverwaltung der kapitalistischen Normalität aus, sondern würde sich im Falle eines Wahlerfolgs in die Position des Verwalters des bürgerlichen Staates begeben. Wirklich demokratische Strukturen zu schaffen hieße in diesem Fall, gegen die eigenen Interessen zu arbeiten. Am Ende wird eine solche Republik so aussehen, wie wir sie in der BRD bereits haben. Im schlimmsten Fall könnte sie sogar soziale und politische Konflikte kanalisieren und damit stabilisierend wirken. Deshalb müssen wir davon ausgehen, dass eine umfassende Demokratisierung nur durch die revolutionäre Aktion einer Massenbewegung erkämpft werden kann. Dennoch bewegt die Forderung und die Perspektive einer neuen Republik sehr große Teile der Basis der französischen Linken. Die unmittelbare Aufgabe von Kommunist:innen wäre es daher, diese Forderung als Ausdruck des demokratischen Kampfes im Land und des tatsächlichen demokratischen Fortschritts zu unterstützen und den oppositionellen Inhalt der Forderung hervorzuheben und zu stärken. Dies kann nur durch eine Arbeit in der sozialen Basis und in den aktuellen Bewegungen geschehen, die darauf abzielt, die Kämpfe der Lohnabhängigen mit den allgemeinen demokratischen Forderungen zu verbinden und so die Klassenbewegung gegenüber den Parteiapparaten zu stärken und zum bestimmenden Akteur im Demokratisierungsprozess zu machen.
Um die Selbsttätigkeit der Lohnabhängigen zu stärken, können wir uns als Kommunist:innen also nicht mit punktuellen Mobilisierungen gegen rechts und Wahlen — also der Konkurrenz um die Verwaltung des kapitalistischen Staates — begnügen, sondern müssen langfristige Aufbauarbeit in der Klasse, direkt am Arbeitsplatz und im Stadtteil leisten. Auch hier ist Frankreich ein anschauliches Beispiel: Trotz größerer Mobilisierungskraft der französischen Linken (im Vergleich zur deutschen Linken) gelingt es derzeit kaum, kontinuierlich zu mobilisieren. Und dies trotz zahlreicher Basisorganisationen und kontinuierlicher politischer Arbeit in den Stadtteilen und in bestimmten „Teilbewegungen“. Denn trotz einiger starker Verbindungen zu diesen Organisationen und dieser Arbeit bleibt eine grundsätzliche Trennung zwischen ihnen und der parlamentarischen Linken bestehen, die bestenfalls punktuelle Verbindungen der Kämpfe ermöglicht. Dies liegt vor allem an den unterschiedlichen politischen Zielen und strategischen Prioritäten der jeweiligen Organisationen und Akteure: Die konkrete Arbeit der Basisorganisationen in den Stadtteilen folgt ganz anderen Logiken als die der parlamentarischen Linken, deren politische Arbeit weitgehend von Wahlterminen und dem Zwang, diese zu gewinnen, bestimmt wird. Die Koordination der politischen Aktivitäten in Richtung eines kohärenten politischen Projekts, das für den langfristigen Aufbau einer gesellschaftlich verankerten Fundamentalopposition notwendig wäre, wird dadurch unmöglich gemacht. Aus diesem Grund muss diese Arbeit innerhalb der Klasse der Lohnabhängigen mit einer organisatorischen Arbeit innerhalb der politischen Linken verbunden werden, so dass der Aufbau materieller, d.h. sozialer Macht parallel und verbunden mit dem Aufbau eines politischen Ausdrucks – einer Partei – verläuft und im besten Fall in einem gemeinsamen Prozess zur Verschmelzung führt. Die soziale Verankerung eines solchen Organisationsprozesses garantiert zugleich, dass die angestrebte Fundamentalopposition nicht bei einer prinzipiellen Ablehnung von allem stehen bleibt, da die Kämpfe und Organisierungsversuche der Lohnabhängigen Orientierung für den allgemeinen politischen Kampf und seine Ziele geben. Als Ausdruck dieser Kämpfe erhält die angestrebte Partei über die bloße Opposition hinaus ein positives Ziel: Die konkreten Kämpfe gegen Ausbeutung und Unterdrückung, im Betrieb und in der übrigen Gesellschaft, werden zum allgemeinen politischen Kampf für eine andere Organisation der Arbeit und der Gesellschaft. Denn unsere politische Unabhängigkeit und damit die Fähigkeit, eine oppositionelle Kraft zu sein und zu bleiben, die über die materielle Kraft verfügt, eine revolutionäre Umwälzung jenseits der staatszentrierten Politik der reformistischen Linken zu tragen, erreichen wir nur durch diese langfristige Arbeit innerhalb der Klasse und der organisierten Linken. Um diese Kämpfe und die sich daraus ergebenden Ziele festzuhalten, bedarf es letztlich eines politischen Programms, das sowohl die oppositionelle Haltung als auch das Ziel der kommunistischen Umwälzung enthält. Dieses Programm muss eine scharfe Trennlinie zwischen der (kommunistischen) Linken und allen anderen Parteien und politischen Kräften darstellen. Es kann nicht einfach von Parteifunktionären auf irgendeinem Parteitag für irgendeine Wahl beschlossen werden. Sondern es muss, wie der Aufbau einer solchen Partei, das Ergebnis von sozialen Kämpfen und Bewegungen und deren Zusammenführung mit der organisierten Linken sein.
Es lässt sich sagen, dass ein wesentlicher Unterschied zur Situation in Deutschland darin besteht, dass die französische parlamentarische Linke relativ stark in den Bewegungen der letzten Jahre verankert ist und gewissermaßen als direkter Ausdruck ihrer Forderungen fungieren kann. Die Forderung nach Rücknahme der Rentenreform, das Einfrieren der Energie- und Treibstoffpreise oder die Demokratisierung durch die Abschaffung des Artikels 49.3 und eine neue Republik sind Fragen, um die in den letzten Jahren erbitterte soziale Kämpfe geführt wurden und dynamische Bewegungen entstanden sind. Die Verbindung zwischen Programm und sozialer Bewegung ist im französischen Fall sehr viel deutlicher, auch wenn das Programm bei weitem kein direktes Produkt der Bewegungen ist.12 Hintergrund der anfangs geschilderten parlamentarischen Intrigen und viel wesentlicher für das Verständnis der sozialen und politischen Verhältnisse im Land sind die sozialen Kämpfe des letzten Jahrzehnts in Frankreich, die parallel zur Verstärkung des parlamentarischen Antagonismus eine Zuspitzung und Polarisierung des Konflikts erfahren haben. Aus all diesen Überlegungen ergibt sich die Notwendigkeit der Herausbildung einer eigenständigen kommunistischen politischen Kraft, die durch ihre gesellschaftliche Verankerung in der Lage ist, langfristig nicht nur gegen den allgemeinen Rechtsruck, sondern auch gegen den ihn hervorbringenden liberalen Status quo zu kämpfen und zur Reorganisation und Wiederherstellung der Klasse der Lohnabhängigen als kollektives und politisches Subjekt beizutragen. Dazu bedarf es einer Organisation und eines Programms, die aus den aktuellen Klassenauseinandersetzungen hervorgehen und diese wiederum beleben und damit Ausdruck des historischen Standes der Klassenbewegung sind.
- Programm der NFP: https://lafranceinsoumise.fr/wp-content/uploads/2024/06/PROGRAMME-FRONT-POPULAIRE.pdf ↩︎
- Dass sein Vorgänger, der ehemalige Präsident François Hollande (PS), einen Listenplatz der NFP bekam, schien für die Parteileitungen keinen großen Widerspruch darzustellen. ↩︎
- Die Forderung nach einer Sechsten Republik wird seit Jahren vor allem von Jean-Luc Mélenchon und der LFI vertreten. In letzter Zeit wird es auch vermehrt von revolutionären Organisationen in unterschiedlicher Form aufgegriffen, wenn auch weniger prominent als bei ersteren. Seit den Parlamentswahlen im letzten Sommer und noch mehr seit dem erfolgreichen Misstrauensvotum im Dezember ist sie eine der Hauptforderungen von der reformistischen Linken bis zu den verschiedenen revolutionären Organisationen. ↩︎
- Für einen Überblick über die Klassenkonflikte 2023 und eine allgemeine Auseinandersetzung mit Polizeigewalt und autoritären Entwicklungen in Frankreich siehe: Charles Reeve, „Frankreich: Ende einer Bewegung, eine Explosion der Wut“, Communaut, 23. September 2023. https://communaut.org/de/frankreich-ende-einer-bewegung-eine-explosion-der-wut ↩︎
- Natürlich gibt es noch andere mehr oder weniger große Strömungen, doch wir beschränken uns hier auf die derzeit dynamischsten, sichtbarsten und (wahrscheinlich) zahlenmäßig größten Strömungen. ↩︎
- Die Partei NPA hat sich 2023 gespalten, beide tragen jedoch weiterhin den Namen der Partei, erweitert um den Namen ihrer jeweiligen Zeitung. ↩︎
- Für zwei kurze Berichte und Analysen der Lage in Chile nach der Wahl von Gabriel Boric, siehe: „Der chilenische Traum ist aus“, analyse&kritik, n° 698, November 2023.
https://www.akweb.de/bewegung/vier-jahre-nach-der-revolte-der-chilenische-traum-ist-aus/ ; „Über das Scheitern der staatsaffinen Linken in Chile“, Communaut, 26. Juli 2024. https://communaut.org/de/ueber-das-scheitern-der-staatsaffinen-linken-chile ↩︎ - Weil das Symbol der Volksfrontregierung von 1936 im Kontext der NFP so zentral ist, sei noch darauf hingewiesen, dass diese Staatsaffinität und die daraus resultierende Regierungsorientierung der reformistischen Linken auch durch ein Vergessen bzw. eine Umdeutung der historischen Volksfront von 1936 gekennzeichnet ist. Wenn heute in Frankreich von der Volksfront die Rede ist, dann ist in den meisten Fällen die Volksfrontregierung gemeint, also die Koalitionsregierung unter Léon Blum zwischen der SFIO (Sozialdemokraten und Sozialisten, französisches Mitglied der Zweiten Internationale) und den Radikalsozialisten (bürgerliche Sozialdemokraten) unter Duldung bzw. Unterstützung der Kommunistischen Partei (PCF). Der soziale Kontext, also die Streiks und massiven Mobilisierungen der Arbeiter:innen, wird hier völlig ausgeblendet. Allenfalls werden diese Streiks beiläufig erwähnt, quasi als Randphänomen, das sich auf die Wahl der Volksfrontregierung reduzieren lässt. Obwohl sich die Streiks wahrscheinlich aufgrund der Begeisterung über den Wahlsieg der Linken so schnell ausbreiteten, waren sie in den meisten Fällen nicht von den Arbeiter:innenorganisationen — Parteien und Gewerkschaften — initiiert und kontrolliert. Vor allem aber waren es diese Massenstreikbewegungen, die es der Volksfrontregierung ermöglichten, historische Errungenschaften für die Lohnabhängigen gegen das Kapital durchzusetzen. Diese Errungenschaften werden heute jedoch fast ausschließlich mit der Regierung in Verbindung gebracht. Weniger betont wird vor allem in der parlamentarischen Linken, dass die Beendigung der Streikbewegung eine Voraussetzung für diesen „Deal“ zwischen den Gewerkschaftsführungen, der PCF und der Volksfrontregierung auf der einen und dem französischen Kapital auf der anderen Seite war. Voraussetzung für diese Errungenschaften waren also die Massenstreikbewegung und die Angst des Bürgertums vor einer proletarischen Revolution. Die dominante Lesart dieser historischen Ereignisse, die bis weit in die französische Linke hinein verbreitet ist, erlaubt es den linksreformistischen Parteien der NFP heute, die Tatsache zu verdrängen, dass alle sozialen Errungenschaften das Ergebnis sozialer Kämpfe sind und dass ein parlamentarisches Kräfteverhältnis nur aus einem sozialen Kräfteverhältnis hervorgehen kann. ↩︎
- France: „Without struggles, no popular front. Six theses for a discussion.“ historical materialism, 28. Juni 2024. https://www.historicalmaterialism.org/france-without-struggles-no-popular-front-six-theses-for-a-discussion/ ↩︎
- Mike Macnair, „Fragile unpopular front“, Weekly Worker, 18. Juli 2024. https://weeklyworker.co.uk/worker/1500/fragile-unpopular-front/ ↩︎
- Ibid. ↩︎
- Vielmehr wurde es – auch wegen des Zeitdrucks der Neuwahlen – innerhalb kürzester Zeit zwischen den Parteivorständen diskutiert und von diesen beschlossen. ↩︎