Im ersten Teil seiner Artikelreihe zum Verhältnis der Linken zum aktuellen Geschehen in Palästina setzt sich Carlos Quiñones mit der Situation innerhalb der Partei die Linke seit dem 7. Oktober 2023 auseinander und beschreibt die Debatten darüber, welchen Platz Palästina im Wahlkampf einnehmen sollte.
Am 16. Dezember entscheidet der Bundestag, ob er den Weg freimacht für Neuwahlen im Februar. Ob Neuwahlen oder nicht — die Chancen sind hoch, dass die Linke bald aus dem Bundestag fliegt. Die verschiedenen sozialen und politischen Krisen haben die Partei nicht gestärkt, sondern an den Rand der öffentlichen Wahrnehmung gedrängt, während AfD und BSW mit einem oppositionellen Auftritt ihren Einfluss ausgebaut haben.
Dennoch gibt sich die Linke nach außen geschlossener, als sie es in den letzten Jahren vermocht hat. Der breit getragene Kompromissbeschluss des Halleschen Parteitags der Linken zur Situation in Palästina/Israel, der beiden Seiten ein Selbstbestimmungs- und Selbstverteidigungsrecht zuspricht, und die Wahl von Jan van Aken und Ines Schwerdtner als vergleichsweise unkontroverse Parteivorsitzende stärken an der Basis der Partei die Hoffnung auf einen geschlossenen Wahlkampf ohne zu viele Skandale. Die tausendfachen Haustürgespräche von Parteiaktiven im ganzen Bundesgebiet sind Ausdruck eines Willens, die Kontroversen innerhalb der Partei, insbesondere rund um den Krieg in Palästina, zu beenden, und sich auf unkontroverse Fragen rund um die sozialen Nöte der Bevölkerung zu konzentrieren.
Nichtsdestotrotz haben auch der Parteitag in Halle und die Auflösung der Ampel bei weitem nicht zu einer Beendigung der seit dem 7. Oktober 2023 wieder stärker ausgetragenen Auseinandersetzung rund um die „Nahostposition“ geführt, was sich an den vielen Austrittserklärungen von Parteirechten seit dem Parteitag zeigt, aber auch an dem von der Berliner Landesschiedskommission beschlossenen Ausschluss des Neuköllner Genossen Ramsis Kilani.
Diese Artikelreihe stellt einen Versuch dar, verschiedene Fragen rund um das Verhältnis der Partei Die Linke zur „Palästina-Bewegung“ aufzuschlüsseln. Im vorliegenden ersten Text widme ich mich der aktuellen Lage in der Partei und der Entwicklung des Konflikts zwischen den internationalistischen und den rechten Teilen der Partei seit dem 7. Oktober 2023. Ich erkläre, warum einige prominente Mitglieder aus dem israelfreundlichen Lager der Partei ausgetreten sind, obwohl die Partei sich nach dem 7. Oktober der deutschen Staatsräson unterwarf, wie die politische Linke und die Parteilinke mit den aktuellen Herausforderungen rund um den Themenkomplex Palästina umgegangen ist und mit welchen Vorstellungen die Parteilinke und die Linkspartei als Ganzes in den Wahlkampf geht. Ich argumentiere, dass die Wahlkampftaktik der Parteilinken einem internationalististischen Anspruch nicht gerecht wird. Im zweiten Artikel werde ich anhand einer Darstellung des Kampfes der revolutionären deutschen Sozialdemokratie gegen die Kolonialpolitik des Kaiserreichs und insbesondere des Wahlkampfes der SPD von 1907 (»Hottentottenwahl«) zeigen, wie ein antikolonial-sozialistischer Wahlkampf aussehen kann, der die lohnabhängige Bevölkerung unter widrigen politischen Bedingungen für eine konsequente Opposition gegen die „Weltpolitik“ des „eigenen“ Staates gewinnt. Im dritten und letzten Artikel werde ich nachzeichnen, wie sich die im deutschsprachigen Raum bisher kaum diskutierten Konflikte innerhalb der Democratic Socialists of America rund um Palästina seit dem 7. Oktober 2023 entfaltet haben.
Die Linke und ein Jahr Völkermord in Gaza
Blicken wir zurück auf die Situation vor einem Jahr: Eine der letzten Handlungen der Linksfraktion, noch bevor die BSW-Abgeordneten (mit den Mandaten der Partei) abwanderten, war die – zumindest grundsätzliche – Unterstützung für den Antrag „Solidarität mit Israel“ vom 12. Oktober 2023. Dieser Beschluss sprach von Israels »Recht auf Selbstverteidigung« und betonte das »Existenzrecht Israels«. Er billigte die Zunahme der Repression gegen Palästinasolidarität, auch durch »aufenthaltsrechtliche Maßnahmen«. Linke Abgeordnete drückten fürs Protokoll ihre Bauchschmerzen aus über die eine oder andere Formulierung eines Textes, der sich ein Jahr später in aller Deutlichkeit als Aktionsprogramm der deutschen Rückendeckung für Israels Krieg gegen die palästinensische Bevölkerung deuten lässt.
In dieser Zeit gab es kaum organisierten Widerstand innerhalb der Partei dagegen, sich der deutschen Staatsräson zu beugen und die politischen Beziehungen zur palästinensischen und palästinasolidarischen Linken zu kappen. Der relevanteste Protest kam wohl aus dem SDS, in der Form einer öffentlichen Stellungnahme.1 Die Organisation einer effektiven Abwehr scheiterte schon an der Dreispaltung von Marx21 als damals stärkste Strömung des linken Parteiflügels am 15. Oktober 2023, aus der die Revolutionäre Linke und Sozialismus von Unten hervorgingen, während die verbleibende Mehrheit den Namen Marx21 beibehielt. Zwar trugen unzählige Genoss:innen aus den damals hervorgegangenen Strukturen dazu bei, eine Solidaritätsbewegung auf der Straße aufzubauen (ein unverzichtbarer Beitrag), doch zu wenige trugen die Auseinandersetzung in die Partei hinein. Entweder, weil sie die Partei sowieso verlassen hatten oder seitdem verlassen haben, oder aus anderen Erwägungen.
Im Laufe des letzten Jahres sind diese Ansichten nur stärker geworden. Immer mehr internationalistische Genoss:innen verlassen die Partei, immer mehr Genoss:innen geben die Auseinandersetzung in der Partei selbst auf oder entschließen sich dagegen, überhaupt erst für ihre Ansichten offen und systematisch zu streiten. Kein Wunder: Alle Lager und die meisten Parteimitglieder waren nach der Abspaltung Wagenknechts „kriegsmüde“. Sie sind es immer noch. Dazu kommt, dass sich auf der Ebene des öffentlichen Ausdrucks, was die zentralen Fragen betrifft, recht wenig getan hat im vergangenen Jahr, insbesondere verglichen mit den dramatischen Entwicklungen in Palästina und Umgebung: Auch nach zehntausenden toten Palästinenser:innen und der Ausweitung des Kriegsgeschehens verschließt sich die Partei in ihrer öffentlichen Kommunikation vor der einfachen Einsicht (die sich allmählich sogar in Teilen der deutschen Bevölkerung breit macht), dass mit dem israelischen Staat keine „Lösung“ möglich ist – auch keine „Zweistaatenlösung“. Dass es, bei aller berechtigter Kritik an den Formen und Taktiken des palästinensischen Widerstands, illusorisch wäre zu glauben, dass es für Palästinenser:innen eine Alternative dazu gäbe, von ihrem sogar völkerrechtlich verankerten Recht auf Widerstand Gebrauch zu machen. Und als ob das nicht genug wäre, haben die zentralen Instanzen der Partei jedes erdenkliche Zugeständnis nach rechts gemacht, während sie gleichzeitig der von staatlicher und medialer Seite angegriffenen palästinasolidarischen Linken, die bis in die eigenen Parteireihen hineinreicht, in jedem entscheidenden Moment die notwendige öffentliche Unterstützung verweigerten.
Warum also stürmten Lederer, Breitenbach und Co. am 11. Oktober aus dem Saal des Berliner Landesparteitags? Warum verließen Quade, Wolf, Benn, sowie die Berliner Abgeordneten Lederer, Breitenbach, Scheel, Schatz und Schlüsselburg die Partei? Eine Erklärung könnte lauten, dass die Partei in ihrer aktuell desolaten Lage auch unabhängig von der heraufbeschwörten „antisemitischen“ Bedrohung den Parteirechten keine Perspektive mehr bietet. Das würde aber im Umkehrschluss insbesondere für die ausgetretenen Berliner Abgeordneten heißen, dass sie ihre eigene Karriere mittlerweile eher in einer anderen Partei oder in einem neu zu schaffenden rechten Konkurrenzprojekt besser aufgehoben sehen, was zur Zeit unwahrscheinlich ist. Die Gruppe um Lederer erhofft sich wie es aussieht eher, in die Partei stärker hineinwirken zu können, indem sie den Drehpunkt ihrer Politik raus aus der Partei schiebt und die Partei den bürgerlichen Medien zum Fraß vorwirft. Sie haben deutlich gemacht, dass sie erwarten, Teil der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus bleiben zu dürfen, auch wenn sie entgegen der Beschlusslage und einer expliziten Aufforderung des Berliner Landesvorstandes ihre Mandate nicht abgeben werden. Und in seinem Austrittsschreiben ruft Schlüsselburg die Partei zu einer Säuberung auf: Es brauche »Unvereinbarkeitsbeschlüsse mit „Palästina spricht“, „Sozialismus von unten“ und ja auch „Marx 21“«.2 Der Ausschluss des Genossen Kilani ist ein erster Schritt hin zur Einlösung dieser Forderung — ungeachtet aller Beschwörungen des Parteifriedens in der Wahlkampfzeit. Und da die Partei die Ausgetretenen wohl kaum aus der Fraktion ausschließen wird, könnte ihre Taktik aufgehen.
Was auch immer der Plan der Ausgetretenen ist, er lässt sich nicht auf karrieristische oder private Abwägungen reduzieren – auch wenn (ehemalige und aktuelle) Amtsträger:innen natürlich davon profitieren, keine Abgaben an die Partei mehr zahlen zu müssen. Vor allem wäre es ein Fehler zu glauben, die Antisemitismusvorwürfe gegen die Partei seien bloß ein Vorwand gewesen um endlich abzuhauen. Der rechte Rand der Partei ist Opfer seiner eigenen Verschwörungstheorien, und er hat sich in seinem Wahn selbst marginalisiert, wovon er logischerweise nicht profitiert. Dieser Wahn musste umso krasser zunehmen, je weiter der Völkermord sich ausbreitete und unbestreitbar wurde. Es war unvermeidbar, dass die Mehrheit der Partei trotz aller Inkonsequenz nicht mitziehen würde, und es war ebenso unvermeidbar, dass die Vorwürfe des rechten Rands sich früher oder später gegen die Mehrheit der Partei richten würden.
Die Austritte waren also nicht primär das Produkt eines entschlossenen Einhalts gegen die Linie des rechten Parteiflügels. Wenngleich gesagt werden muss, dass es diesen entschlossenen Einhalt zweifellos vereinzelt gegeben hat: an der Basis der Partei, auf den Hauptversammlungen, auf Demonstrationen und ja, vereinzelt auch auf Parteitagen. Doch er war nicht entscheidend, und er gelangte vor allem viel zu selten an die Öffentlichkeit. Es gab keine planvolle und organisierte Auseinandersetzung mit den Parteirechten, es gab keinen offenen Streit für einen Bruch mit der Staatsräson. Schließlich schien es nicht „nötig“, denn schon die Kompromissanträge mit der Mitte der Partei waren „zu viel“ für die Parteirechten. Der Preis ist aber, dass der linke Flügel der Partei aus den Austritten bisher wenig gezogen hat und die Situation schnell kippen könnte.
Der wichtigste Maßstab, an dem wir den Erfolg des linken Flügels aktuell messen können, ist das Verhältnis der Partei zur Bewegung gegen den Krieg. Dieses Verhältnis ist gleich schlecht wie vor einem Jahr, wenn nicht schlimmer, obwohl der Erfolg, die Klarheit und das Wachstum dieser Bewegung heute mehr denn je davon abhängt, dass sie endlich einen parteipolitischen Ausdruck findet. Es ist (angesichts des Scheiterns der Partei) eine verständliche, aber gefährliche Illusion, zu glauben, dass die eine oder andere Absplitterung der zersplitterten außerparlamentarischen Linken diese Bewegung in der aktuellen Situation politisch anführen kann. Schließlich haben das nicht einmal die Genoss:innen von MERA25 mit ihrem beeindruckenden Wahlkampf geschafft. Denn MERA25 hat nicht nur bewiesen, was möglich ist – ein internationalistischer Wahlkampf mit hunderten Wahlkampfhelfer:innen, der die Bevölkerung über die deutsche Mittäterschaft aufklärt – sondern auch, was zurzeit wahrscheinlich nicht möglich ist: Die Linke zu ignorieren.
Die Partei und die Bewegung gegen den Krieg
Der effektivste Weg, wie das Verhältnis der Partei zur Antikriegsbewegung verändert werden kann, ist der Aufbau eines bundesweiten marxistischen Zusammenhangs innerhalb der Linken, der durch ein demokratisches Organisationsstatut (nein, keine „Netzwerke“ mehr) und ein marxistisches Programm seinen kommunistischen Kompass bewahrt und sich nicht vom Streben der Parteimitte nach Einheit mit den Rechten anstecken lässt – eine Einheit, die natürlich nur um den Preis einer Schwächung der Beziehung zur Antikriegsbewegung zu erlangen ist. Auch wenn die Partei nicht als Ganzes mitzieht, müssen Marxist:innen innerhalb der Partei als Teil der Partei der Bewegung alle Hände ausstrecken und zugleich bewusst und offen in das politische Handgemenge in der Partei eingreifen.
Diesen Spagat hat der linke Parteiflügel im vergangenen Jahr nicht hinreichend geleistet. Als Beispiel: Die Genoss:innen von Sozialismus von Unten haben das letzte Jahr über unzählige Palästinademos geprägt und gleichzeitig ein beeindruckendes Veranstaltungsangebot geschaffen, insbesondere in Berlin. Doch sie taten das als Sozialismus von Unten. Parallel dazu waren sie Teil der Linkspartei, ohne aber in ihr entschlossen zu kämpfen und ohne die eigenen Möglichkeiten auszuschöpfen. Als Beispiel hierfür sei daran erinnert, dass die Genossin Buchholz ihre Ablehnung, für die Linke in den Bundestag nachzurücken, politisch mit dem Zustand der Partei begründete. Sie hätte die Ausnahme im Bundestag sein können, die im letzten Jahr immer wieder nötig gewesen wäre.
Nur die wenigsten haben sich mit Parteifahnen auf die Palästinademos gewagt und sich dem schwierigen, aber notwendigen Austausch und überhaupt der meistens berechtigten Kritik der Bewegung ausgesetzt. Das muss überall passieren, denn ohne uns dieser Kritik auszusetzen, werden wir das Vertrauen der Bewegung nicht gewinnen können. Das reicht aber nicht: Marxist:innen in der Linken müssen glaubhaft machen, dass sie innerhalb der Partei für internationalistische Positionen kämpfen und auf den Parteitagen dieselben klaren Worte finden, die sie auf der Straße rufen. Sie müssen versuchen, ihre Positionen mithilfe der Partei in der Gesellschaft zu verbreiten. Und sie müssen dabei stets die Antikriegsbewegung stärken und der Bewegung beweisen, dass ihr Erfolg wesentlich von den Entwicklungen in der Linkspartei abhängt. Nur so können sie damit anfangen, die nötigen (neuen und alten) Mitstreiter:innen für den Aufbau einer breiten und organisierten marxistischen Opposition in der Partei allmählich (zurück-) zu gewinnen.
Zugleich ist nicht zu erwarten, dass die internationalistischen Genoss:innen außerhalb der Linkspartei, die um ein Vielfaches zahlreicher sind, als wir in der Partei, in nächster Zeit ihre Taktik überdenken und der Partei beitreten werden, um sich dieser Arbeit anzuschließen. Das sollte uns zwar nicht davon abhalten, den graduellen Aufbau einer marxistischen und damit internationalistischen Opposition innerhalb der Linkspartei anzugehen. Denn erstens scheint es zurzeit das Sinnvollste zu sein, was die politische Linke in Deutschland in Bezug auf den Genozid in Gaza gerade tun kann, und zweitens deutet vieles darauf hin, dass der Krieg in nächster Zeit kein Ende nehmen wird. Dass die politische Linke nicht vorbereitet gewesen ist auf die aktuellen Herausforderungen, bedeutet nicht im Umkehrschluss, dass sie jetzt auf die notwendige Vorbereitung verzichten könnte, oder dass sie ihre strategischen und taktischen Entscheidungen nicht grundsätzlich überdenken sollte. Davon wird die Lage nur schlimmer.
Trotzdem soll nicht bestritten werden, dass die Zeit drängt. Auch wenn über Taktiken keine Einheit herrscht, brauchen wir jede Hilfe, die wir kriegen können. Die außerparlamentarische, internationalistische Linke muss die Entwicklungen innerhalb der Linkspartei aufmerksam verfolgen, und diese Entwicklungen in ihr politisches Handeln einbeziehen. Sie muss die Linkspartei und natürlich auch ihren linken Flügel zu Solidarität herausfordern. Sie muss Beziehungen aufbauen zum linken Rand der Partei, und ihm zur Seite stehen, wenn er angegriffen wird. Kurz: Die außerparlamentarischen linken Organisationen müssen ihre tendenzielle Gleichgültigkeit gegenüber den Auseinandersetzungen in der Linken überwinden und Druck aufbauen, damit die Linke sich der Bewegung stellt.
Ampelauflösung als Chance
Die Regierungskrise und die kommenden Wahlen könnten genutzt werden um die Partei in den Dienst der gesellschaftlichen Opposition gegen den Völkermord in Gaza zu stellen. Eine solche Taktik ist aber vom neuen Parteivorstand nicht zu erwarten, und wird von der Mehrheit der Partei auch nicht befürwortet. Dafür spricht zum einen, dass sich in Halle 235 Delegierte des Bundesparteitags (51,4%) dagegen aussprachen, drei Aktivist:innen aus der Palästinasolidarität das Rederecht zu geben, während 174 Delegierte (38%) dafür waren und 48 Delegierte (10,5%) sich enthielten. Zum anderen herrscht aber auch unter den palästinasolidarischen Teilen der Partei vielerorts die Auffassung, dass der inhaltliche Schwerpunkt des Wahlkampfs anders gesetzt und auf andere Ziele ausgelegt werden müsse. Bei der Landtagswahl in Sachsen holte sich der Genosse Nguyen mithilfe von hunderten Wahlkampfhelfer:innen mit 39,8% der Stimmen das Direktmandat für den Leipziger Wahlkreis 1. Sein Direktmandat und das von Nagel im Wahlkreis Leipzig 4 sorgten dafür, dass die Partei trotz ihrer insgesamt schlechten Ergebnisse in den sächsischen Landtag einziehen konnte. Im Gegensatz zu Nagel, die aus dem israelsolidarischen Lager kommt, steht der Genosse Nguyen dem Leipziger SDS und Marx21 nah.
Die Genoss:innen von Marx21 sind in besonderer Weise in der Palästinasolidarität involviert und organisieren selbst Bildungsveranstaltungen zum Thema, wie neulich das Online-Gespräch mit Moshé Machover, dessen Texte wir auch für Licht & Luft übersetzen wollen. Der Genosse Nguyen sagte selbst in einem Interview mit Jacobin vom 16. August:
»Niemand möchte eine zerstrittene Partei wählen, das ist klar. Aber es gibt auch Punkte, an denen es mehr Disziplin innerhalb der Parteimitgliedschaft braucht. Wenn wir etwa auf den Krieg in Nahost blicken, hat Die Linke sehr klare Positionen, die den Krieg in Israel und Palästina und auch die völkerrechtswidrige Besatzung seitens der israelischen Politik verurteilen. Das muss dann auch so kommuniziert werden. Ich erlebe eine krasse Angst davor, klare Stellung zu beziehen. Vor allem, wenn man sich anschaut, wie stark palästinasolidarische Aktive und Palästinenserinnen und Palästinenser hier in Deutschland vonseiten des Staates und der Polizei unter Repression leiden, würde ich mir wünschen, dass Die Linke da viel eindeutiger in ihrer Kommunikation ist.«3
Vor kurzem hat sich Genosse Nguyen auch mit den Berliner Genoss:innen solidarisiert, die nach dem Berliner Landesparteitag in der rechten Presse namentlich erwähnt und angegriffen wurden. Im Folgenden geht es also nicht um eine moralische Abgrenzung, sondern in erster Linie um eine taktische Differenz: Es war eine taktische Entscheidung der Genoss:innen von Marx21, Deutschlands Rolle in einem laufenden Genozid und Krieg im Wahlkampf nicht zum Thema zu machen. Unabhängig davon, ob formale Absprachen existierten oder nicht, lief diese Taktik auf ein Ausklammern der inhaltlichen Auseinandersetzung mit Nagel und dem israelfreundlichen Flügel der Leipziger Partei hinaus. Stattdessen lag der Fokus auf dem Genossen Nguyen und auf „nahbaren“ „Klassenfragen“, die über eine groß angelegte Kampagne mit Haustürgesprächen, Events und viel Aktivität auf sozialen Medien an die Bevölkerung herangetragen wurden. Angesichts der Schwäche der Partei war es richtig, sich auf einen Wahlkreis zu fokussieren, wo die Chance auf ein Direktmandat hoch war. Außerdem kann es natürlich nicht darum gehen, die Thematisierung von sozialen Problemen in einem sozialistischen Wahlkampf „an sich“ zu kritisieren. Und schließlich können auch viele der im Wahlkampf eingesetzten Mittel (Haustürgespräche usw.) unter den richtigen Bedingungen eine vernünftige Rolle spielen. Aber es brauchte den jüngsten Leipziger Wahlkampf nicht, um zu beweisen, dass man in vielen Fällen gute Wahlergebnisse einfahren kann mit einem ansprechenden und gut organisierten Wahlkampf, der die sozialen und ökonomischen Probleme der arbeitenden Bevölkerung teilweise benennt, ohne diese Probleme zu verbinden mit einer Aufklärung über die herrschende Politik als Ganzes. Die SPD, die Grünen und auch die Geschichte von PDS und Linkspartei liefern dafür anschauliche Beispiele.
Der allgemeine Maßstab, an dem sich der linke Flügel und damit auch die Genoss:innen von Marx21 messen lassen muss, ist auch in dieser desolaten Situation nicht, ob man selbst die Wahlergebnisse effektiver erhöhen kann als andere, sondern ob man mit dem Wahlkampf als Mittel das politische Bewusstsein und die Kampfkraft der Klasse der Lohnabhängigen heben kann.4 Dass dazu wesentlich die Stärkung einer internationalistischen und antikolonialen Haltung unter Lohnabhängigen gehört, das wissen die Marx21-Genoss:innen eigentlich auch. Trotzdem nahm Genosse Nguyen nicht die Herausforderung der linken palästinensischen und palästinasolidarischen Gruppe Handala Leipzig an, auf ihrer Kundgebung am 31. August zu sprechen – auf der Eisenbahnstraße, im eigenen Wahlkreis. Auch nach den Wahlen gab es eine erneute Einladung, zu einer Demonstration am 6. Oktober zu kommen, die wieder nicht genutzt wurde. Da diese Aufgabe nicht priorisiert wurde, ist erstens die Bewegung gegen den Krieg nicht sonderlich viel näher an die Partei gerückt, weil die Annäherungsversuche der Bewegung selbst ausgeschlagen wurden. Und zweitens hat man letztlich die Ansicht innerhalb der Partei gestärkt, dass es vernünftiger sei, den „Nahostkonflikt“ gar nicht oder zumindest nicht direkt (also bestenfalls kryptisch über die „Friedensfrage“) im Rahmen der kommenden Bundestagswahlen aufzugreifen.
Das Ironische daran ist, dass ein konsequent geführter antikolonialer Wahlkampf, der die deutsche Beteiligung am Genozid in Palästina benennt und bekämpft, zu einem guten Wahlergebnis führen könnte, und von einem wichtigen Teil der Partei vor allem aus politischen Gründen abgelehnt wird. Ein vages Indiz dafür liefern die Wahlerfolge des BSW, denn Wagenknecht punktet auch mit ihrer am Völkerrecht angelehnten Kritik an der israelischen Politik – wobei sie natürlich von ihrem faktischen Öffentlichkeitsmonopol in der Partei profitiert, sowie davon, nicht mit einer Strömung in ihrer Partei kämpfen zu müssen, die das Völkerrecht von rechts untergraben will.
Ein weiterer Indikator sind die lokalen Ergebnisse von MERA25 bei der Europawahl (wobei natürlich zu beachten ist, dass die Europawahlergebnisse in der Regel von den Ergebnissen der Bundestagswahl stark abweichen). Denn auch wenn sie bundesweit nur 0,3% der Stimmen erzielten und auch in größeren Städten insgesamt keine riesigen Ergebnisse holten (Bremen und Berlin 1,4%, in Hamburg, Köln, Leipzig, Freiburg, Heidelberg und Bonn 0,7%), gewannen sie in Berlin-Neukölln 3,3% der Stimmen (zum Vergleich: 10% für die Linke), in Berlin-Kreuzberg 3% (Die Linke: 13%) in Berlin-Mitte 2,9% (Die Linke 10%). In einigen linken Wahlbezirken holte sich Mera25 sogar 6%. Da in der Partei die Orientierung auf den Kampf um Direktmandate in linken Hochburgen breit geteilt wird, wird man nicht nur die BSW-Wähler:innen, sondern vielerorts auch die MERA25-Wähler:innen nicht einfach ignorieren können, ohne einen relevanten Wähler:innenanteil einzubüßen.
Die Minderheit in der Bewegung und in der Partei, die sich der undankbaren Aufgabe annimmt, auf eine internationalistische Haltung im Rahmen des Wahlkampfs zu bestehen, wird angesichts dieser Situation gegen den Strom schwimmen müssen: mit Wahlkampfveranstaltungen zum Thema Völkermord in Gaza und in Solidarität mit der unterdrückten palästinensischen Bevölkerung, mit eigenem Wahlmaterial und durch die regelmäßige Teilnahme an Demonstrationen mit Parteifahnen und Parteimaterial.
Außerdem wird diese Minderheit jenen unentschlossenen Parteimitgliedern zumindest erklären müssen, wie ein erfolgreicher sozialistischer Wahlkampf aussehen könnte, der die imperiale Rolle des eigenen Staates benennt und bekämpft. Denn auch wenn wir uns keine Illusionen darüber machen dürfen, wie der öffentliche Ausdruck der Linken in den nächsten Monaten insgesamt sein wird, müssen wir als Parteilinke an einer alternativen Vision festhalten. Als Beitrag in diese Richtung wird im zweiten Artikel dieser Serie die antikoloniale Politik der Kaiserreichs-SPD in der sogenannten »Hottentottenwahl« von 1907 präsentiert. Die Art, wie die alte Sozialdemokratie den Kampf gegen die Kolonialkriege und den Völkermord ihrer Zeit mit der allgemeinen sozialistischen Agitation zu verbinden wusste, kann dem linken Flügel der Partei in dieser herausfordernden Lage eine solche alternative Vision bieten.
- Diese Erklärung kann weiterhin auf der Seite des SDS gelesen werden, siehe https://linke-sds.org/statement-zur-situation-in-isreal-palaestina ↩︎
- https://schluesselburg.eu/austritt-aus-die-linke ↩︎
- https://jacobin.de/artikel/landtagswahl-sachsen-die-linke-nam-duy-nguyen ↩︎
- Zu der Frage, welche Funktion Wahlen und parlamentarische Praxis aus marxistischer Sicht spielen können, und welche Ansichten Marx, Engels und ihre Nachfolger:innen in Bezug auf diese Frage vertraten, empfehle ich The Ballot, the Streets — or Both? von August H. Nimtz. ↩︎